Erneut schlugen sie wieder zu und flugten aus. Ich übergebe wiederum an den verantwortlichen Chronisten, Thomas, bitte übernehmen Sie.
Stendal war das erwählte Ziel des Novemberausflugs, ein kühl vernebeltes Brandenburg dämpfte die Erwartungen bereits bei der Anreise, still wurde die Elbe überquert. Und die (bisherige) Glanzzeit der Hansestadt liegt ja nun auch schon 500 Jahre zurück.
Aber das Zentrum der Altmark ist dann doch viel mehr als nur ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Hamburg und Berlin. Der spätmittelalterlich geprägte und an vielen Stellen noch gut erhaltene Stadtkern wird schön ergänzt durch etwas jüngere Fachwerkhäuser, charmante Gründerzeitstraßenzüge, Kleinode aus Jugendstil und Bauhaus sowie zurückhaltend eingepasste moderne Architektur. Stendal ist als Kreisstadt natürlich nicht nur Verkehrs- und Verwaltungs-, sondern auch Schulzentrum. In der unmittelbaren Umgebung des Stadtsees finden sich 3 imposante Schulgebäude: die schöne Bauhaus-Sekundarschule, der umwerfende Grundschulneubau und schließlich das nach seinem berühmtesten Schüler benannte Winckelmann-Gymnasium (ein restaurierter Komplex aus der Kaiserzeit, der in der Reisegruppe Staunen hervorrief).
Winckelmann dürfte auch als als berühmtestes Kind der Stadt gelten, denn Otto von Bismarck wurde einige Kilometer entfernt geboren und Stendhal wählte zwar sein Pseudonym nach unserem Reiseziel, war aber wohl nie hier.




Wer den Namen Johann Joachim Winckelmann nicht kennt, kriegt den Auftrag den Wikipedia-Artikel zu überfliegen, das ist hier schließlich ein Bildungsblog. –
Der künstlich angelegte Stadtsee bietet Menschen und Wassergeflügel gleichermaßen schöne Rückzugsräume, die Trauerweide sorgen für einen angemessenen Rahmen. Die solarbetriebene Belüftung des Sees sorgte für Staunen bei der Reisegruppe, der eine oder andere tote Vogel für einen Hauch jahreszeitlich angemessener Morbidität.
Diese hat aber gar keine Chance überhand zu nehmen, denn vor dem Eingang des Tiergartens mit Blick auf den Stadtsee wacht ein weißer, hölzerner, fröhlicher, glücksspendender Fuchur!

Diese Kontraste prägen das Bild von Stendal.
Der Wärme der roten Backsteine des Bahnhofsgebäudes steht dem kalt und modern umfahrenen Uenglinger Tor gegenüber, Größe und vergangener Reichtum der beeindruckenden Kirchenbauten lässt ihren Erhaltungszustand noch beklagenswerter erscheinen, in vielen der gewachsenen historischen Straßenzüge hat das 20.Jahrhundert brachiale Spuren hinterlassen, die progressive und feministische Jugend kann sich mit Stickern und Graffitis nur mühsam gegen dumpfen Rechtsnationalismus behaupten, das prachtvolle Rathausensemble aus Spätgotik und Renaissance – samt einer wirklich skurrilen Rolandfigur – blickt auf einen menschenleeren Marktplatz herunter, Reichtum und Glanz der Vergangenheit ringen mit pragmatischer Moderne.
Und doch bleibt Fuchur nicht der einzige Glücksfleck im Stadtbild. Die bemalten Fenster der Nikolaikirche sind umwerfend schön (und mit viel Mühe vor der Zerstörung im zweiten Weltkrieg bewahrt worden). In der Marienkirche findet man außer Orgel und Altar in der Dunkelheit ganz hinten versteckt eine wirklich fantastische astronomische Uhr (in den 1970ern durch jahrelange Arbeit eines Goldschmiedemeisters restauriert worden).
Auf dem Winkelmannplatz an der Rückseite des Marktensembles wärmt ein kleiner Vorweihnachtmarkt den Spätherbst.



Wie erwartet war uns ein Großteil der Geschäfte und Gastronomie am Samstagnachmittag verschlossen. Aber das wunderbare „Le petit“, das schöne „Bohne und Praline“ im Ratskeller sowie vor allem das großartige „Café Müller“ mit seiner verführerischen Kuchenauswahl haben uns dann doch beeindruckt. Und auch die freundliche Zugewandtheit der Stendaler*innen (nicht jedoch ihrer Hunde!) sorgte dafür, dass wir uns mit wohlig-warmer Zufriedenheit auf den Heimweg machten. Und mehr kann man an so einem nebligen Novembertag eigentlich gar nicht verlangen.

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