- Warum es wieder losgeht oder eine neuerliche Hamsterradkritik
- Von Friedrichshain über Friedrichshain hin zu böhmischen Dörfern
- Von tschechoslowakischen Höhen und Tiefen
- Diashow, die erste: Von Heidesee bis fast zum Triglav
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (1) von Altungarisch bis Walachei
- Über idyllische Plattitüden und endloses Grün
- Über das januszipfelige Istrien
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (2) von Adige bis Theodor Mommsen
- Reisen nach Zahlen – 100 Tage
- Von einer die auszog das Fürchten zu verlernen
- Der italienischen Reise erster Teil
- Die besten Gerichte von draussen
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (3) von Basilikata bis Wildschwein
- Der italienischen Reise zweiter Teil
- Der italienische Reise dritter Teil
- Einblicke ins Reisetagebuch
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (4) – Von Ätna bis Zitrusfrüchte
- Reisen nach Zahlen – Tag 200
- Währenddessen in Afrika
- Così fan i tunisini
- Eisenbahnfahren in Tunesien
- Von Menschenhaufen und anderen Platzhengsten
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (5) von Agave bis Tuareg
- Tunesien – auf der Suche nach der Pointe
- Reisen nach Zahlen – Tag 300
- Sardinien – der italienischen Reise letzter Teil?
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (6) von Asinara bis Tafone
- Kleine, feine Unterschiede
- Im Autokorsika über die Insel
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (7) von Elba bis Tarasque
- Fahrradfahren (u.v.m.) wie Gott in Frankreich – erste Eindrücke
- Jahrein, jahraus, jahrum
- Ausrüstung für Langzeitreisende – ein paar grundlegende Gedanken
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (8) von Baselstab bis Wasserscheidenkanal
- Querfeldein und mittendurch – Frankreich vom Rhein bis zum Atlantik
- Wissensstrandkörner aus dem Reisewatt – Gezeiten-Sonderausgabe
- Ratgeber: Radfahren auf dem EuroVelo 6 (Frankreich)
- Projekt-Radria-Gleiche (Tag 426)
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (9) von El Cid bis Wanderdüne
- Der Jakobsweg – ein fader Pfad im Kurzporträt
- Ratgeber: Fahrradfahren auf dem Eurovelo 1 (Velodyssée)
- Unter Jakoblingen – von den Pyrenäen bis ans Ende der Welt
- Wissensplitter aus dem Reisesteinbruch (10) von Don Sueros de Quiñones bis Saudade
- Reisen nach Zahlen – 500 Tage
- Kopfüber durch Portugal und zurück
- Aus dem Reiseplanungslabor: Arbeitskreis Westafrika
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (11) von Azulejos bis Wasserballastbahn
- Meerdeutigkeit
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (12) Von Al-Andalus bis zu den Säulen des Herakles
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (13) von Alcazaba bis zur Unbefleckten Empfängnis
- Andalusien – ein Wintermärchen
- Reisen nach Zahlen – 600 Tage
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (14) von Flysch bis Trocadéro
- Rowerem przez peryferie
- Von Aisha Qandisha bis Moulay Idriss (15) Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch
- Jauchzend betrübt – die Packungsbeilage für Marokko
- Marokkohochjauchzende Menüvorschläge
- Reisen nach Zahlen – 700 Tage
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- Die „Reiß-dich-am-Riemen“-Tour oder Radwandern für Durchgeknallte
- Ratgeber: Radfahren auf dem Eurovelo 8 – „La Méditerranée“
- Wissenssplitter aus dem Reisesteinbruch (17) von Bektaschi bis Vučedol
- Giro della Jugoslavia
- Ratgeber: Radfahren auf dem EuroVelo 6 – das Balkankapitel
Es ist an der Zeit das Schweigen zu lüften, es ist an der Zeit ein paar Worte über das Gastgeberland zu verlieren in dem wir uns nun schon seit längerem wie Gott in Frankreich fühlen. Aber, ach, wo anfangen? So viele Eindrücke, so viele Erfahrungen – von allem so unüberschaubar viel. Doch angesichts des Umstands, dass nun ja mit Süditalien erst noch das Italien kommt, welches mir emotional am nähesten liegt und ich dementsprechend befürchte, dass es nicht weniger mit den Erlebnissen wird, muss nun gehandelt werden. Also frisch ans Werk! Wie schwierig kann es schon sein knapp 50 Tage Italien pointiert und anschaulich zusammenzufassen?!
„Den Po im Rücken, die Adria im Sinn und den Süden im Herzen!“
Die Route (grob zusammengefasst) von Lazzaretto bis nach Trani
- Trieste – die mythenüberfrachtete Hafenstadt Kakaniens ist nur noch schwer unter der Firnis provinzieller Randständigkeit auszumachen, dennoch ein angemessenerer Einstieg in jede Italienreise als bspw. Bolzano
- Venedig – umfahren über die Laguneninseln, Besichtigung als Tagestour ohne Fahrrad – ein perfekter Tag bei bestem Wetter, mit ertragbaren Touristenmassen und erstaunlich wenig Tauben – eine schlichtweg jede Vorstellung und Norm sprengende Stadt – eine Frechheit so etwas Außergewöhnliches in einem Stichpunkt abzuarbeiten!
- Chioggia – nach all dem Glanz und Schönen wird man hier nochmal völlig unerwartet mit etwas konfrontiert, was in jeder Weltengegend spektakulär wäre, aber hier ist es halt nur ein Alternativziel neben Venedig
- Po-Delta – das Gewirr an Flüssen, Sümpfen, Seen und anderen Feuchtigkeiten hielt uns lange auf – die verschiedenen Widrigkeiten über die Flüsse zu kommen, störten ebenso wie die penetrante Ödnis dieser Region
- Comacchio – als wir dachten wir hätten das Po-Delta hinter uns tauchte dieses Städtchen auf und bezauberte uns vollends – ein weiteres Klein-Venedig, aber eines mit einer fünfseitigen Brücke, der Trepponti-Brücke
- Ravenna – vieles spricht auf dem Papier für Ravenna – die Stadt der Mosaike, ganze acht Weltkulturerbe-Gebäude, darunter so spektakuläre Bauten wie das Mausoleum von Theoderich des Großen oder die San Vitale Basilika zogen uns vom Meer ab und, ja, es hat sich schon sehr gelohnt
- San Marino – es war alles ein wenig anders als geplant, aber letzten Endes schoben wir unsere stolzen Rösser mit Sack und Pack auf den Hügel des Zwergstaats und nächtigten sogar dort – ein Länderpunkt der Extraklasse
- Pescara – die endlose Kette an funkelnden centro storicos muss ohne Pescara auskommen – der übliche Gang der Dinge: Krieg, Zerstörung, hastiger Wiederaufbau führten hier zu den bekannten Resultaten – dennoch verbrachten wir hier dank netter Menschen ein paar schöne Tage
- Campo Imperatore – der Höhepunkt dieser Reise im doppelten Sinne – der Moment, in dem sich die mächtigen Buchenwälder des Vorgebirges öffnetn und man einen Blick auf diese wellige Steppenlandschaft, die so gar nicht nach Italien passen will, erhascht – unbezahlbar!
- Larino – unser erster Wwoofing-Einsatz an der Olivenfront – ein idyllischer Hügel in der kargen und baumlosen Steppe Süditaliens
- Manfredonia – unserer Basis zur Entdeckung des Gargano – mit Sicherheit nicht die Perle des Sporns, aber wir fanden hier ein ruhiges Plätzchen um uns den Rest dieser außergewöhnlichen Halbinsel anzuschauen
- Trani – unüberschaubar scheint die Zahl an sehenswerten Städten, Städtchen und Dörfern in Apulien – Trani ist dabei mit Sicherheit eine der wertvollsten Juwelen in der Schatulle – fast komplett im leuchtenden Trani-Stein erbaut, mit Gebäuden, die vor Geschichte und Lebenslust zu triefen scheinen – wenn da nur nicht der allgegenwärtige, penetrante Autoverkehr wäre
Besonderheiten und andere Auffälligkeiten
„Diese Architektur, die Eleganz, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen, das Essen und von allem so viel…“ lese ich in meinem Tagebuch von den Eindrücken der ersten Tage. Einen Aspekt möchte ich mir jetzt hiervon herausgreifen und zwar jenen der Freundlichkeit. Denn diese ist wirklich über alle Maßen auffällig und allgegenwärtig. Ich will mich nicht mit Plattitüden aufhalten, von wegen dass es überall auf der Welt freundliche und hilfsbereite Menschen gibt, doch das was uns hier vom ersten Tag an entgegenschlug überstieg das gewöhnliche Maß um einiges. Das Lächeln, zieht sich hier durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten, es ist weder Kalkül noch Modeaccessoire, es scheint ein unveräußerbarer Teil des Ganzen zu sein. Jenes Ganze, welches wie immer schwer zu beschreiben ist, doch echte Herzenswärme, unverfälschtes Interesse und aufrichtige Hilfsbereitschaft erkenne ich wenn sie mir begegnet. Und in Italien begegnete sie mir oft. So oft, dass man sich teilweise kaum traute länger anzuhalten und fragend auf sein Handy oder gar Fahrrad zu blicken, weil umgehend jemand neben einem stand, der dem hilflosen Nordländer, der auch noch dummerweise sein Auto nicht dabei hatte, seine Hilfe anzubieten. Auch wenn ich natürlich ein paar Arbeitshypothesen für das weshalb dieses Umstands parat hätte, möchte ich sie nach so kurzer Zeit noch nicht präsentieren. Letztlich ist es ja auch nicht so wichtig warum es so ist, sondern dass es so ist. Ein gewisser Ché Guevara meinte einstmals, dass Solidarität die Zärtlichkeit der Völker wäre und ohne mich als Volk begreifen zu wollen, gab es hier zwischen Isonzo und Gargano oft Gelegenheiten in denen ich den zärtlichen Aspekt von Solidarität vollends begriff.
Kommen wir zu einem anderen weniger zärtlichen Moment der italienischen Wirklichkeit – dem Straßenverkehr. Ich sehe hier zwei berichtenswerte Aspekte. Fangen wir mit der dunklen Seite an: Italien ist infrastrukturell komplett zerstört. Der ÖPNV, ein gut gehütetes Geheimnis von wenigen, dürftigen Verbindungen, abgesehen natürlich von der bestens polierten Hochgeschwindigkeitsbourgeoisie. Fahrradfahren ist etwas für Migranten, Kinder, Touristen und Hipster auf übertrieben breiten und funkelnden Radwegen in der Nähe mancher Strände und Altstädte, aber nicht existent außerhalb dessen. Dem letzten Glied in dieser Hierarchie, dem Fußgänger, wird abgesehen von einigen Hochglanz-Fußgängerzonen ein erbärmliches Dasein am Rande der Gesellschaft zugebilligt. So man sich in diesem Land in Bewegung setzt, scheint es einem von überallher sekündlich anzuschreien: „Selbst schuld wenn du nicht in einem Auto sitzt!“ Es ist traurig, frustrierend und vor allem wirkt es so komplett hoffnungslos. Hier scheint das Ende der Spirale vom „kaputtgesparten-ÖPNV-deswegen-Autokauf-nicht-vom-Auto-loskommen-weil-schlechter-ÖPNV“ erreicht.
Doch abseits dieser düsteren Gedanken gibt es auch hier lichte Momente. Denn so furchtbar und unnötig ich den Verkehr hier empfinde, bin ich doch in manchen Momenten angetan von der legeren Form mit der sich eben dieser Verkehr bewegt. Ja, ich weiß, Klassiker-Kategorie zum wegschalten: Nordländer mit verklärten Blick will in Chaos und Missorganisation Charme und Romantik entdecken, aber ich habe in den verstopften Kreisverkehren und verwinkelten Gassen dennoch einen erstaunlichen Gleichmut und sehr viel Rücksicht wahrgenommen, den ich in den meisten Verkehrssituationen nördlich der Alpen nicht erlebt habe. Ja, es wird viel gehupt und zahlreiche Handgesten schwirren aus den Autofenstern, aber keiner flippt aus, bedroht den anderen oder zeigt sich sonstwie unzivilisiert. Alles verläuft in einem friedlichen Rahmen, fast scheint es als gäbe es ein unausgesprochenes Rahmen, der alle Beteiligten sanft umschließt und ihnen das beruhigende Gefühl vermittelt, dass es entscheidend wichtigere Dinge im Leben gibt, als Erster zu sein oder Recht zu haben.
Erstmals stieß ich, in dem hier von mir schon hochgelobten Buch „Auf der Suche nach Italien“ von David Gilmour auf jenen merkwürdig klingenden Begriff – campanilismo! Wie so vieles was ich als, stets an Italien interessierter und, ja, auch ein wenig verknallter Reisender, erst dank dieses Buchs besser verstand, begriff ich nun auch, dass campanilismo viel mehr als bloßer Lokalpatriotismus ist. Er greift viel tiefer und allumfassender, es ist vielleicht einer der wesentlichsten Dinge an Italien die man halbwegs verstanden haben muss um mehr zu verstehen. Die Piazza, die Kirche und die Stadtmauern als identitätsstiftende Grundlage – kein sonderlich neues Konzept sollte man meinen. Doch der campanilismo – die Verbundenheit mit dem eigenen Lebensraum – war schon lange eine starke Kraft (und wenn wir im Falle Italiens das Wörtchen „lange“ verwenden, meint man meistens wirklich lange!) und trug dazu bei Italien zu einem „Nicht-Volk mit einem Nicht-Staat“ zu machen. Ob seiner natürlichen räumlichen Begrenzung wurde und wird er oft als Brutstätte der Engstirnigkeit denunziert, doch so sehr ich beispielsweise dem Lokalpatriotismus sehr skeptisch gegenüberstehe, bin ich mir hier zumindest unsicher ob eine solche Verurteilung nicht doch zu kurz greift. Denn der campanilismo ist nicht provinziell oder borniert, er ist auch nicht gleichbedeutend mit jener Art Stammestreue wie es die Begeisterung für einen Fußballclub erzeugen kann. Es geht hier eher um das Festhalten an einer historisch gewachsenen und letztlich autarken Gesellschaftsform, die vor vielen Jahrhunderten entstand, um den Bedürfnissen der Bewohner Sorge zu tragen. Und damit kommen wir vielleicht zum Kern des Pudels – der Italiener hat seit Jahrhunderten drei Verteidigungsringe gegen alle Widrigkeiten des Lebens: seine Wohnung, seine Piazza und seine Stadtmauern. Und wenn man das einmal verinnerlicht hat, dann beginnt man zu begreifen, dass Italien eben nicht nur Nord und Süd ist, auch das Italien der Regionen trifft es nicht, nein, es gibt wahrscheinlich soviele Italiens wie Sterne am nächtlichen Adriahimmel. Das Multiversum Italien kann dem zurückhaltenden Besucher viel Freude bereiten. Was gibt es schon besseres als etwas was man mag in unendlichen Varianten entdecken zu dürfen?! Gelassenheit ist jedoch gefragt wenn die Wissenslücken über das was hinter den Stadtmauern vorgeht, derart eklatant sind, dass man es nicht glauben mag. Wenn die leidenschaftlichen und herzlichen Olivenbauern in Molise einem mit der Ernsthaftigkeit ihres gesamten Standes erklären wollen, dass man in Apulien nur deswegen jetzt noch nicht erntet, weil diese zu faul wären, dass man aber nur 30km südlich andere Olivensorten hat, die noch komplett grün sind, konnte sich der sanft vom campanilismo betäubte Moliser nicht vorstellen. Aber zu diesem Thema später mehr – Arbeitstitel steht schon mal: „Olive mio!“
Empfehlenswerte Orte
Parco dell’Isonzo – an sich überhaupt nichts Herausragendes, sondern einfach nur ein weitläufiger menschenleerer Park an dem immer noch glasklaren Isonzo, den wir schon seit dem Triglav kennen. Vielleicht taucht dieser Ort nur deswegen in dieser Aufzählung auf, weil wir damals die Hoffnung hatten, dass dies in Italien die Normalität wäre: gut ausgestatte und gepflegte Parks ohne Menschen und Straßenverkehr. Grundfalsch lagen wir mit dieser Annahme vielleicht nicht, aber schon falsch.
Venedig – als ich auf dem Schiff stand, dicht gedrängt mit einer gut sortierten Mischung an Touristen waren meine Erwartungen gemischt. Einerseits, klar, die Serenissima, Imperium, Republik und bei aller Häme und Propaganda vielleicht das dauerhafteste politische Konstrukt was auf dem italienischen Kontinent bis heute existierte. Auch die spezielle Natur der Lagunenstadt tut sein Übriges zum Mythos. Doch wie das so oft ist – derlei Besonderheiten locken nicht nur ein, zwei Radnomaden an. Legende und Außergewöhnlichkeiten sind meist Magneten für allerlei Volk, welches von weither extra anreist um sich hier anständig beeindrucken und bezaubern zu lassen. Und in der Tat, als unser Schiff seine Touristenfracht über die Touristenmassen am Hafen auskippte, wurde mir etwas mulmig. Doch überraschenderweise beruhigte es sich abseits der üblichen Abhakpunkte und man konnte sich tatsächlich in ruhigen Wassergassen entspannen. Daher der Tipp für Venedig: Den Hauptsehenswürdigkeiten so wenig Zeit wie möglich widmen. Diese Stadt ist noch aus jeder Mülltonne heraus sehenswert und dort geht es zweifellos entspannter zu.
Chioggia – Apropos Entspannung. Ich weiß ja nun nicht wie es in Chioggia zur Hauptsaison zugeht, aber ich hoffe doch das sich das zum spärlichen Aufkommen in der Nebensaison skaliert. Daher wäre dieses kleine Städtchen am südlichen Ende der Lagune etwas für den Menschenmassen eher abgeneigt gegenüber stehenden Genießer. Im Gegensatz zu den gut drei Dutzend Städten, die sich mit dem Titel „Klein-Venedig“ schmücken, stimmt es hier wirklich. Kunststück, die Stadt gehörte Ewigkeiten zur Republik Venedig und war quasi das zentrale Tor um die Lagunenstadt zu erreichen. Da wird einem im Laufe der Zeit natürlich einiges vom Glamour und Stil Venedigs übergeholfen. Allein der Corso del popolo, eine einziges großes Straßencafé ist die Reise wert.
Valli di Comacchio – Nachdem man die Lagunenstadt hinter sich gelassen hat, geht es eigentlich erst richtig los mit den Lagunen. Die hier empfohlenen Lagunenseen gehören zu den größten die zwischen dem Po-Delta und Ravenna liegen. Man befindet sich hier schon auf dem diffus mäandernden und nie enden wollenden Gebiet des „Parco regionale del Delta del Po“. Ab hier beginnt also nicht nur ein ewig flaches Sumpfgebiet und Mückenparadies sondern auch ein beeindruckendes Vogelschutzgebiet. Und auch wenn ich hier vielleicht einmal zu oft über Flachheit gemeckert habe, die Nächte, die wir hier verbrachten, gehörten zu den stillsten und naturverbundensten Nächten dieser Reise. Mit dem letzten Licht verstummt alles und erwacht erst wieder mit dem Morgenrot. Dazwischen nur totale Stille und die kalten Sterne über einem – das ist in Europa, zudem mitten in „La terra di motorini“, mittlerweile nicht mehr so leicht zu organisieren.
Parco Regionale di Monte San Bartolo – Diese kleine Ausnahme vom täglichen Adriaeinerlei sahen wir schon weitem. In der Tat gibt es an der gesamten italienischen Adriaküste nur zwei Momente an dem man nicht annähernd auf Augenhöhe mit dem Meer ist: diese Hügel hier und den Gargano (siehe unten). Die hügelige Straße, die die diese Berge quert, muss nur einmal wirklich erklommen werden, danach geht es in 44 Serpentinen munter auf und ab. Großartige Ausblicke, hübsche Städtchen und ganz allgemein wenig Zivilisation. Aber das Beste: von 7:30-12 ist der motorisierte Verkehr hier nicht gestattet.
Campo Imeratore – es gab viele Momente auf dieser Reise die uns mit offenen Mündern da stehen ließen. Momente, in denen die Zeit kurz verschnauft und die Wirklichkeit beschließt, dass es für heute auch mal gut ist. Sprich, Augenblicke, die in ihrer Unbegreiflichkeit so einzigartig sind, dass man sie vorsichtig in die Schatzkiste der Erinnerungen ablegt und sie nur zu besonderen Anlässen hervorholt um sich an ihnen zu erfreuen.
Gargano – lange hatte ich dieses ganz besondere Stück Italien schon auf dem Kieker, nun war es endlich soweit. Der Gargano kann nicht nur mit einem gerüttelt Maß schnuckeligster Städtchen (Vieste, Peschici) und außergewöhnlicher Wallfahrtsorte (Michaelsgrotte, San Giovanni Rotondo) und vor allem – Trommelwirbel – den letzten Wald Süditaliens, den Foresta Umbra, welcher es unlängst gar unter die „Zehn schönsten Wälder der Welt“ schaffte, auftrumpfen.
Radstatus
Wie im letzten Rapport bereits kundgetan, befinden wir uns kilometertechnisch irgendwo im grauen Bereich zwischen 3000 und 4000. Die glamouröse 5000 wird also dieses Jahr schwerlich zu erreichen sein. Wenn alles so läuft wie wir uns das gegenwärtig vorstellen, könnte dies unser erstes Geschenk an den neuen Kontinent werden. Ansonsten bleibt zu berichten, dass wir beide unseren ersten Platten hatten. Erster war in dieser Disziplin das Rad von Aga Lopp. Beide Schäden wurden schnell und routiniert behoben, wobei natürlich stets die Sorge mitschwingt wie es zu den winzigen Löchlein kommen konnte, da im Reifen, trotz sorgfältiger Inaugenscheinnahme kein Makel entdeckt wurde. Fest steht somit ohne jeden Zweifel, dass wir vor dem Übersetzen nach Afrika noch einmal gehörig in uns gehen werden und beide Räder auf Herz und Nieren (was auch immer das bei Fahrrädern sei!?) prüfen werden. Neue Reifen gehören dabei zweifellos ganz nach oben auf den Wunschzettel.
Was sich verändert hat (nach über 100 Tagen)
Eine Sache muss hier dringend erwähnt werden: Die Vergesslichkeit bzw. die zunehmende Unfähigkeit sich Orte, Gebirge, generell Namen zu merken. Es sind einfach zu viele und ununterbrochen neue. Und ja, ich finde es sehr peinlich wenn ich wie ein oberflächlicher Ami-Tourist vor Italienern stehe und ihnen nicht erklären kann wo ich die letzte Nacht geschlafen habe. Alles sehr ärgerlich, aber offensichtlich gibt es kein Patentrezept dagegen außer ab und an mal längere Pausen einzulegen und sich mit der Umgegend anzufreunden. Und dazu wird es in den nächsten Monaten ausreichend Gelegenheit geben. Mit unserem ersten Haushütejob in Apulien leiten wir quasi die Winterruhe ein. Denn zwei Aspekte machen das Fahrradreisen ab November zunehmend schwieriger: die Abnahme des Tageslichts und die unnötig lange Zeit bis sich der Tag ausreichend aufgewärmt hat. Dennoch werden wir uns auch während dieser Zeit weiterhin auf dem Rad bewegen. Es stehen schließlich noch sehr hügelige 500km bis nach Sizilien an. Doch speziell Sizilien wedelt verheißungsvoll mit seinen einladenden Winterdomizilen (Olivenernte!) und für Januar und Februar sind Pläne für Tunesien (Olivenernte!) vorhanden.
Trani, Trani, das weckt irgendwelche Erinnerungen, aber vage, weil auch ich die ganzen Orte, in denen ich in Apulien war, verwechsle.
Aber dann in meinen Fotos und Artikeln gekramt, und schon ist die hübsche kleine Stadt wieder vor mir.
Dort war es auch, wo ich auf eine interessante Episode im deutsch-italienischen Verhältnis gestoßen bin: https://andreas-moser.blog/2014/08/19/befehlsnotstand/
Ich kenne Italien ja nur als Fußgänger und ÖPNV-Nutzer, und das ist wirklich hart.
Es geht schon ein Bus in jedes Dorf, aber man muss halt vorher irgendwie irgendwo den Fahrplan rausbekommen und dann diesen einen Bus am Tag abpassen. (Die Züge in Apulien fand ich besser, aber ich wohnte auch in Bari, also im Knotenpunkt der ganzen Linien.)
Und als Fußgänger neben den Staatsstraßen, das ist echt deprimierend. Und dann kann man nicht einfach so querfeldein laufen wie in Mitteleuropa, weil alles abgezäunt und privat und verboten u.s.w. ist. Diesbezüglich finde ich dann Südtirol und auch Trentino wieder ein bisschen zugänglicher.
Andererseits gibt es doch auch eine große Fahrradfaszination, oder?
Ich erinnere mich an den Giro d’Italia, der damals just durch Bari führte – https://andreas-moser.blog/2014/05/13/video-blog-giro-ditalia-2014/ – und dass ich aufgrund meines Nachnamens oft gefragt wurde, ob ich aus der bekannten Radrennfahrerfamilie stamme. (Allerdings nur im Süden. Im Norden wissen die Leute, dass Moser ein Allerweltsname ist.)
Ich freue mich für und mit Euch auf Sizilien!
Dort war ich den Winter über (Oktober bis März oder so), und es war fantastisch. Noch meist gutes Wetter, aber keine Touristen mehr. Die Sizilianer waren entspannt, hatten alle Zeit der Welt, sehr freundlich. Und überall konnte man Orangen und Zitronen von den Bäumen pflücken. (Wegen irgendwelcher EU- oder anderer Quoten werden eh nicht alle verkauft.)
Ja, mit der Faszination für etwas ist es eine Sache, die Wirklichkeit umzugestalten etwas anderes. Wenn du den Giro heranziehst, bemerkst du ja auch, dass die Leidenschaft für einen hochgezüchteten Leistungssport, dem man ein paar Stunden Aufmerksamkeit gönnt, um dann wieder in die Autorealität zu entfleuchen, etwas ganz anderes ist, als das Fahrrad als gleichberechtigtes Fortbewegungsmittel zu akzeptieren. Sicher, speziell in Norditalien haben wir da schon Tendenzen in diese Richtung gesehen, aber so sehr ich Süditalien liebe, hier wird die Fortbewegung mit dem Rad irgendetwas zwischen Nahtoderfahrung und Chaostagen werden. Aber vielleicht ist das auch ein gutes Training für den Rest der Welt, der noch auf uns wartet. Besser wird es definitiv nicht werden.
Ich glaube, Sizilien im Winter wird ein bisschen besser, zumindest abseits von den befahrenen Küstenstraßen. Allerdings wird es dann auch gleich sehr bergig.
Notfalls gäbe es noch die kleineren Inseln wie Lipari oder Vulcano. Da ist wirklich wenig Autoverkehr.
Und jetzt fällt mir erst wieder ein, dass ich auf Sardinien und La Maddalena mal ein paar Tage mit dem Fahrrad unterwegs war. Das war sogar im Frühjahr/Sommer, aber es ging eigentlich auch ganz gut. Allerdings musste ich auch nicht quer über die Insel, sondern habe nur Tagesausflüge gemacht.
https://andreas-moser.blog/2014/06/01/fahrrad-sardinien/
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