Lang schon hatte mich dieses Buch vom Nachttischlein her angeblinzelt. Die Verlockung war groß, allein der Mut fehlte stets es anzugehen. Angesichts der Düsternis des Novembers und resignativen Gelassenheit die diese Tage des Jahres auf mich von jeher ausüben, fasste ich mir ein Herz und vertiefte mich in die Beschreibungen eine der schrecklichsten Episoden der Menschheitsgeschichte. Seit langer Zeit also mal wieder ein Sachbuch. Zeit wurde es, wenn man den teilweise doch recht seichten Quatsch, den ich mir in letzter Zeit so zu Gemüte führte, betrachtet. Da ein nicht unbedeutender Teil meines Lebens der Forschung zum Thema Rote Armee gewidmet war, besteht diesbezüglich natürlich immer noch ein enormes Interesse. Speziell wenn es sich um ein solch gewagtes Unternehmen handelt. Cahtherine Merridale ist mit keinem geringeren Vorhaben angetreten, als uns den Alltag, ja das Wesen des einfachen Soldaten, in diesem, alle Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengenden Konflikt, näherzubringen. Ein Thema, welches bislang noch nicht bearbeitet wurde. Der Zweite Weltkrieg ist zwar eine ausführlich auseinanderdeklinierte Epoche, doch mühen sich die meisten Werke in anderen Sphären der Geschichtsanalyse ab. Wenn sich mit dem einfachen Soldaten beschäftigt wird, dann zumeist mit dem deutschen Landser. Die große Masse der einfachen Rotarmisten kommt zwar ununterbrochen vor, doch in der Regel als heroischer, unbeugsamer, aber immer auch gesichtsloser Statist. Daher war die Betrachtung jenes stumm gebliebenen Zeitgenossen mehr als überfällig. Doch angesichts dürftiger Quellenlage, ideologischer Zerrlinien und gedächtniskultureller Tabuzonen handelt es sich hierbei zweifellos um eine unfassbar knifflige Angelegenheit. Dennoch schafft es Merridale ein überzeugendes und quellendichtes Werk vorzulegen. Kein neuerlicher Theorienbasar, der das Wesen jenseits des Bugs anhand westlicher Sekundarliteratur zum Thema versucht abzuwägen. Nein, dieses Buch zeugt von verbissener Archivarbeit und intensiven Zeitzeugengesprächen. Allein deshalb ist es eine ungemein aufschlussfreudige Fundgrube für all jene, die versuchen wollen zu verstehen wie und warum der durch Mangel, Inkompetenz, Desinformation und Bespitzelung behinderte Rotarmist es schaffte die zu diesem Zeitpunkt größte und erfolgreichste Militärmaschine der Welt aufzuhalten und letztendlich sogar zu besiegen. Es bleibt über große Strecken eine Schilderung, die trotz noch so guter Quellen und anschaulicher Darstellung schlicht unvorstellbar bleibt. Es ist ein Szenario, welches sich in weiten Teilen unserem Denken schlicht und einfach entzieht. Dennoch ist die Lektüre in vielerlei Hinsicht erhellend. Das Alltagsleben – die Erwartungen, Bedürfnisse und Begrenzungen den sich Soldaten im Gefecht gegenübersahen, werden detailliert geschildert und deren Bedeutungen umfassend erläutert. Anhand einiger Soldaten, die wider die offizielle Anordnung Tagebuch führten, wie auch persönliche Briefe erfahren wir viel über die Veränderungen die der Krieg mit ihnen anstellte. So können wir zwar mit Sicherheit nicht das tägliche Dasein der Frontowiki nachvollziehen, doch wir erhalten die Chance einiges mehr zu begreifen. Nicht nur so etwas wie den Hass und die Gier nach Vergeltung, die zu den Plünderungen und Vergewaltigungen führte, als die Rote Armee erstmals auf deutschem Boden stand. Wir bekommen auch einen ausgezeichneten Einblick in die verschieden Verwerfungen der Erinnerungsindustrie und der Heroisierungskultur, welche fadenscheinig und heuchlerisch ein Bild von jenen Rotarmisten entwarf und damit für ein ähnlich abwegiges Bild verantwortlich zeichnete wie es die westlichen Geschichtsfriseure nach Kriegsende taten und bis in die Gegenwart tun. Was wirklich war, wird auch dieses Buch nicht entschlüsseln können. Doch es zeigt deutlich auf, dass die Grausamkeit und Verrohung von vier Jahren Fronterfahrung, mitsamt der Entbehrung und Opferbereitschaft des Hinterlands einerseits sowie andererseits die wahre, sich in den Schützengräben entwickelnde Freundschaft und die Hoffnung auf eine bessere Welt, welche nach einem solchen Krieg einfach kommen muss, ein bestimmender Grundton dieser Zeit war. Davon findet sich wenig in all den beschriebenen Seiten, die diesen Krieg zum Thema haben. Daher sind Bücher wie diese so ungemein wichtig, da sie jene zu Wort kommen lassen versuchen, die, auch wenn sie keine Worte finden, zumindest gefragt haben.