Auch wenn es etwas her ist seit ich die letzte Seite dieses Buches umschlug, so soll es doch keinesfalls unterlassen werden, ein paar Worte hierzu zu sagen. Eine angemessene Beurteilung wäre wohl auch kurz nach dem Lesen schwer geworden. Ist doch eine gleichermaßen kritische wie unaufgeregte Beschreibung des Sowjetführers eine ungemein schwierige Angelegenheit, kommen doch jedwede Annäherungen an Stalin zumeist mythenumrankt und zeitgeistverschleimt daher. Dieses Buch (Der junge Stalin: Das frühe Leben des Diktators 1878-1917)machte mit seinen einleitenden Worten jedoch Lust, es nicht gleich wegzulegen oder unter Schmerzen weiterzulesen. Zwar kommt auch hier der Buchrücken nicht ohne die üblichen Eigenschaftswörter à la “blutrünstig” aus, doch im Vorwort weist Montefiore auf einen wichtigen Umstand hin: Wie kann es sein, dass ein Mensch diese Position erreichen, dem von der Geschichtsschreibung wie seinen zeitgenössischen Kritikern (auf die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Parteien sei hierbei sacht hingewiesen!) provinzielle Mittelmäßigkeit attestiert wurde und der nur durch geduldiges Aufbauen seines Apparats Macht angehäuft haben soll. Wie konnte aus dem “grauen Fleck” (Suchanow) ein Weltstaatsmann, “der zum Aufbau und der Industrialisierung der UdSSR beitrug, der Churchill und Roosevelt übertrumpfte, Stalingrad organisierte und Hitler besiegte”, werden? Nein, wie so oft bei starken Persönlichkeiten in der Geschichte, verraten die einfachen Lösungen, welche uns hinterher präsentiert werden, mehr über die Eitelkeit der Zeitgenossen und die Bequemlichkeit der Historiker. Dennoch bleibt es ein schweres Unterfangen, die Persönlichkeit Stalins herauszuarbeiten angesichts des Wusts an liebgewonnenen Ansichten und Erkenntnissen über ihn, ob sie nun auf den Stalinkult oder antistalinsche Verschwörungstheorien zurückgehen. Speziell über den jungen Stalin gibt es erstaunlich wenig zu erfahren, was erstaunt wenn man bspw. an die reichhaltige Literatur über Hitlers Jugend denkt. Somit erhält dieses Buch schon allein dadurch seinen Wert, dass wir unser Wissen über Sossos (lange bevor er sich Stalin nannte, war er unter diesem Namen bekannt) erste Jahre erheblich anreichern können. Die georgische Gewaltkultur, zahlreiche Krankheiten und etliche, widrige Familienzwiste prägten den späteren Sowjetführer. Damit stehen seine ersten Lebenserfahrungen in diametralen Gegensatz zu den Erfahrungen vieler Bolschewiki, die ihm später begegnen sollen. Das mag nichts oder alles erklären, auf jeden Fall schadet es nichts davon zu wissen. Auch seine spätere Karriere als Bankräuber, Erpresser und Liebhaber rundet das Bild eher ab als das es seine Taten als Sowjetdiktator umfassend erklären könnte. Letztlich sollte man den Wert dieses Buches eben auch nicht allzu hoch hängen. Es bleibt eine streckenweise ausgezeichnete Darstellung der Anfangsjahre einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, doch umso mehr es sich der Revolution nähert, desto schwammiger und problematischer werden die Rückschlüsse des Autors. Auf den letzten Seiten wurde ich dann auch folgerichtig immer stirnrunzliger. Wenn überhaupt sollte man es dem Leser überlassen, mögliche Verbindungen im Handeln des erwachsenen Stalins auf den jugendlichen Sosso zurückzuführen. Daher werde ich es mir wohl länger überlegen ob ich Teil Zwei dieses Werks in die Hand nehmen werde. Fazit: Demjenigen, der gern etwas mehr über die “geheimnisvolle” Vergangenheit Stalins erfahren möchte, sei dieses Buch empfohlen. Jedoch keineswegs vorbehaltslos. Beim Lesen sollte man sich allein auf die materialreichen Details, welche in dieser Dichte wohl in kaum einem anderen Buch erreicht sind, konzentrieren. Die wackligen Rückschlüsse und moralisierenden Vergleiche sollten geflissentlich überlesen werden. Wer sich hierzu nicht in der Lage sieht sollte die Finger davon lassen.