Unter all den Radwegen, die jenes menschenleere Gefilde, welches gemeinhin auch unter der Bezeichnung Brandenburg bekannt ist, durchqueren, sticht der Oder-Neisse-Radweg mit einigen Finessen hervor. Schließlich schlängelt er sich unter anderem durch die Landkreise Uckermark, Görlitz und Vorpommern-Greifswald – ihres Zeichens die Landkreise mit der jeweils geringsten Bevölkerungsdichte in ihren Bundesländern. Zudem hat man mit dem Nachbarland Polen, welches man auf diesem Radweg nur selten aus den Augen verliert, stets eine willkommene Abwechslung zum schläfrigen Randzonengebiet und immer bestes, mobiles Internet.
Nach mehreren Ausflügen an den Zweistromweg habe ich ihn zwar immer noch nicht komplett abgefahren. An beiden Enden franst der Radweg noch ins geheimnisvoll Umwitterte ab. So betreffen also meine hier getroffenen Aussagen, die Strecke vom sächsischen Rothenburg bis hinauf ins pommersche Löcknitz. Die eigentliche Ausdehnung vom tschechischen Nova Ves bis zum haffigen Ückermünde habe ich bislang noch nicht genießen dürfen.
Andere Wissensquellen: Eine akzeptable Onlinestimmung könnt ihr bei oder-neisse-radweg.de oder www.oderneisse-radweg.de erhalten. Ein vorzügliche Vorbereitungsressource bei Radwanderungen jeglicher Natur ist auch stets das radreise-wiki. Hier findet sich eine solide und schnörkellose Tourbeschreibung mit allen notwendigen Koordinaten. Daneben gibt es selbstverständlich auch Offlinequellen wie die bewährten wetter- und reißfesten Tourenbücher von bikeline.
Anreise: Für uns Molochbewohner gehört die Anreise wohl zu den leichteren Aspekten dieser Radreise. Nach einer bizarr kurzen Zugfahrt kann man aus den staubigen und überquellenden Straßen in Gegenden torpediert werden, die Enzyklopädien das Symbolbild für Einsamkeit liefern könnten. Zahlreiche Zugstrecken kreuzen den Oder-Neisse-Radweg. Zur Auswahl stehen die direkt von Berlin zu erreichenden Ziele: Frankfurt (Oder), RE1, Küstrin-Kietz, RB28 und Schwedt (Oder), RE3. Mit einmal in Frankfurt (Oder) Cottbus umsteigen kann man aber auch leicht einen südlicheren Einstiegspunkt wie Eisenhüttenstadt, Guben oder Forst auswählen. Um den Radweg ganz sauber von Anfang an zu fahren, ist ein wenig Aufwand mehr nötig. Ückermünde ist von Berlin aus nach einmaligen Umsteigen in Pasewalk innerhalb von knapp 3 Stunden per Bahn zu erreichen. Bei Nova Ves wird es schon etwas schwieriger: fünfeinhalb Stunden und Umstiege in Cottbus, Zittau und Liberec wären für dieses Unterfangen nötig. Den Wahnwitzigen unter euch sei noch gesagt, dass es auf polnischer Seite einen Zwillingsweg geben soll. Doch nach einer ausführlichen Expedition in die Raderepublik Polen machten wir Erfahrungen der Art, dass wir vom Radfahren in unserem geschätzten Nachbarland vorerst Abstand nahmen.
Übernachten: Auch wenn es sich hier fraglos um recht unbesiedelte Gebiete handelt, durch die man radelt, allein durch die wachsende Popularität des Fernradwegs sind etliche Unterkünfte an ihm entlang emporgeschossen. Diese lassen sich mühelos mit den oben genannten Informationsquellen entdecken oder auch einfach auf offener Strecke vom Wegesrand ablesen. Doch für den Oder-Neisse-Gourmet empfiehlt es sich natürlich den Tag draußen nahtlos in die Nacht übergehen zu lassen und die freie Natur ohne lästige Unterbrechung zu genießen. Gelegenheit hat man hierzu wahrlich genug. Wer diesbezüglich noch ein paar Tipps braucht, liest mein frisch herausgekommenen Wildzelten-Ratgeber.
Charakteristik der Strecke: Die gesamte Strecke beträgt 538 km, ist also in Anbetracht der gut ausgebauten Wege und des größtenteils ebenen Verlaufs in einer guten Woche zu schaffen. Ich tendiere dazu den Weg grob in drei Teile aufzugliedern:
- Vom bergigen Dreiländereck ins Flachland – von Nova Ves bis Forst
- Von der Lausitz in den Oderbruch – von Forst bis Schwedt
- Der platte Rest – Von Schwedt bis ans Haff.
Der hügelige Teil im Süden wird Richtung Zittauer Berge und Liberec mit Sicherheit noch zunehmen. Der von mir befahrene Teil beendet seine Hügeligkeit von Rothenburg aus gesehen ein paar Kilometer vor Forst. Obzwar dieser Streckenabschnitt hier als hügelig bezeichnet wurde, kann man dennoch, selbst mit mittelfiter Erscheinung ohne viel Anstrengung Kilometer machen. Wenn man von Norden kommt, sollten die kurvigen Etappen mit abwechslungsreicherer Vegetation und der immer versteckter agierenden Neisse einen wahren Hochgenuss darstellen. Nach all der Plattheit sollte dies definitiv nochmal ein gelungener Wachmacher sein. Desweiteren locken auf dieser Etappe reichlich Außergewöhnlichkeiten, die eine kurze Erwähnung wert sein sollten. Die Altstadt von Görlitz sollte für den schöngeistig gesinntem Radler ein Muss sein. Diese alte, reiche Handelsstadt, welche im Krieg kaum zerstört und in den letzten Jahrzehnten edelst restauriert wurde, weiß als überbordender Schauplatz von Renaissance, Barock und Gotik zu überzeugen.
Der nächste Höhepunkt auf der Strecke ist der in Bad Muskau gelegene Fürst-Pückler-Park. Dieser Park, welcher als der größte Landschaftspark Zentraleuropas im englischen Stil gilt, wurde ebenfalls in den letzten Jahrzehnten liebevoll restauriert und kommt schockierend betörend daher. Der größere Teil des Parks befindet sich in Polen und ist durch mehrere bezaubernde Neissebrücken miteinander verbunden. So behaupte ich einfach mal, dass man wohl kaum schöner in Polen einreisen kann als bei einem Besuch in diesem einzigartigen Park.
Nicht ganz auf der Stammstrecke aber einen Abstecher wert ist der Azaleen- und Rhododendronpark Kromlau. Hier kann man zur richtigen Jahreszeit in einem unbeschreiblichen Blütenmeer waten und zu jeder anderen Jahreszeit die spektakuläre Konstruktion der Rakotzbrücke bestaunen. Zur Entfernungsorientierung Rothenburg- Forst: 70km
Kommen wir nun zum großen Mittelteil: Von der Lausitz in den Oderbruch. Genaugenommen befinden wir uns auch schon zuvor in der Lausitz, denn das gesamte Gebiet bis Zittau gehört zu dieser Region, genauer zur Oberlausitz. Nachdem wir das waldige und abwechslungsreiche Stück bis Forst absolviert haben, befinden wir uns dann aber definitiv in der Niederlausitz. Ab Forst ändert sich der Charakter der Strecke. Wenn sich aufgrund des Terrains zuvor der Radweg sehr oft vom Flusslauf (der hier noch ein weitgehend naturbelassen ist) entfernt, so bleiben wir nun fast immer in Sichtweite. Der Weg wird immer ebener und schnurgerader und nutzt vielfach die angelegten Deiche für die Streckenführung. Zu Forst ist nicht allzu viel zu sagen, es sei denn man möchte nach den zwei zuvor erlebten Parks noch einen drauf setzen. In Forst kann man sich mit Rosen vergnügen – der Ostdeutsche Rosengarten wartet auf erlebnishungrige Floristen. Offensichtlich ist der exaltierte Kleingärtner in dieser Region mehr als einmal auf offene Ohren gestoßen.
Auf dem Weg nach Guben radelt man durch saftige Auen und schattige Wälder. Bis zur Wende gab es hier noch eine Zugverbindung, doch Mutter Natur hat gut gewerkelt um diese Episode ungeschehen zu machen. Mit den riesigen Tagebauen, die an der Strecke aufklaffen, hat sie dagegen wohl noch lange zu tun. Mit einem Co2-Ausstoß von 23,3 Mio. Tonnen ist das anliegende Kraftwerk Jänschwalde das vierschmutzigste Europas.
Angesichts solcher Erlebnisse schadet es nicht, dass das polnische Pendant von Guben, Gubin nicht weit ist. Das überraschend hübsche Kleinstädtchen ist die perfekte Raststätte um dergleichen Anblicke mit einem frischen Fassbier hinunterzuspülen. Nach Guben geht es auf ähnlicher Strecke wie zuvor weiter nordwärts, bis endlich nach gut 10 km endlich die Oder hinzuplätschert. Von hier lohnt sich ein kleiner Abstecher nach Neuzelle (5km) um Kloster wie Klosterbrauerei gebührend zu würdigen. Mit fremdenverführerischer Koketterie weiß man darauf hinzuweisen, dass hier angeblich das erste Bierbad Europas eröffnet habe. Danach kommt Eisenhüttenstadt, doch der Weg kreuzt nur zaghaft das winzige Altstadtzentrum und so sieht man wenig vom speziellen Charme der sozialistischen Planstadt. Wen das Einzigartige mehr als das Schöne reizt, dem sei ein kleiner Ausreißer in die Neubauschluchten Stalinstadts empfohlen.
Dann geht es auf gewohnt prächtig ausgebauter Strecke nach Frankfurt (Oder) und hiermit sind wir dann auch endlich im Oderbruch. Dieses ehemals komplett versumpfte Urstromtal, welches der Alte Fritz trockenlegen ließ, legt noch mal eine gewaltige Schippe hinsichtlich Flachheit drauf. Die alternativlose Ebene dieser Region sowie ihre offenherzige Leere findet viele Liebhaber, aber auch reichlich Menschen, die dieser Landschaft ratlos gegenüberstehen. Dabei muss gesagt sein, dass interessanterweise die Strecke zwischen Küstrin und Hohenwutzen, also das Filetstück des Oderbruchs, zu den touristisch am besten erschlossenen Stücken des Radwegs gehört.
Was ist sonst noch zu erleben? Den, aus Funk und Fernsehen bekannten Polenmarkt in Hohenwutzen sollte man definitiv mit einer Stippvisite beehren, in Stolpe haben wir ein wunderfeines, kleines Künstlercafé („Fuchs&Hase“) entdecken dürfen und Schwedt, tja Schwedt, hier fühlt man die Uckermark. (Zur Streckenorientierung, Forst-Schwedt: 218km, also eher etwas für 2-3 Tage)
Der platte Rest – von Schwedt bis ans Haff – von hier führt der Weg nun durch den Nationalpark „Unteres Odertal“ durch endlos scheinende Sümpfe welche ausreichend mit Vögeln ausgestattet sind. Die Route führt ins entspannte Mescherin, die den letzten Ausflug per Brücke nach Polen offeriert. Das zu besichtigende Gryfino auf der anderen Seite ist aber eher etwas für den Kenner desaströser Stadt- und Infrastrukturplanung. Die von gnadenlosem Transitverkehr umtoste, alte Backsteinkirche kann nur mit größter Mühe wahrgenommen werden und die ausgefransten Neubauten bieten einen wenig erklecklichen Rahmen für diesen gescheiterten Siedlungsversuch.
Ab Mescherin wendet sich der Radweg irritierenderweise vom vertrauten Flusslauf gänzlich ab und führt weit hinein ins Innenland. Sei es weil selbst die Oder auf dieser Höhe sich in zwei Flüsse geteilt hat, oder sei es weil der Weg sonst folgerichtig durch Polen führen müsste, auf jeden Fall geht die Strecke nun über weite Felder durch den Landkreis Greifswald-Vorpommern. Nach einem kleinen Schlenker über Penkun, geht es wieder steil nach Norden. Nach Löcknitz sind es noch gut 50km bis Ückermünde. Wer mag kann hier sogar das Angebot wahrnehmen die (in der Saison) dreimal am Tag (8:10/11:30/15:10) verkehrende Fähre nach Usedom zu besteigen um den Ausflug mit der echten Ostsee zu krönen. Angesichts der saftigen Überfahrtspreise (Preisbeispiel für zwei Fahrräder+zwei Erwachsene für 80 Minuten Fahrt: €48,40) würde ich dagegen eher zu einem Stettinbesuch mit kleiner Bahnfahrt zum Meer raten. (Streckenorientierung. Schwedt-Löcknitz: 70km)
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Oh, hier werden Erinnerungen wach an meine Lausitz-Rundreise letzten Herbst. Allerdings nicht auf dem Fahrrad.
Zwischen Guben und Gubin fand ich die polnische Seite auch viel hübscher, interessanter, belebter. Und dort hatte ich wenigstens keine Angst, vor Vertretern des „Dritten Wegs“ zusammengeschlagen zu werden, wenn ich allein im Park saß.
Forst könnte die deutsche Lost-Places-Hauptstadt sein, fand ich. Aber industriegeschichtlich super interessant. Ich habe bereut, dass ich da nur einen kurzen Tag war.
Neuzelle passt irgendwie wie die Faust aufs Auge. Als Bayer bin ich so Barock ja gewöhnt, aber ein paar Kilometer außerhalb von Eisenhüttenstadt hätte ich ihn wirklich nicht erwartet.
Und Eisenhüttenstadt, oh la la! Vielleicht lag es daran, dass ich an zwei sonnigen, wunderbaren Herbsttagen in der Stadt war. Vielleicht an dem netten Zufall, dass mich beim Trampen eine Dame mitnahm, die im dortigen Museum arbeitet. Aber Eisenhüttenstadt wurde sogleich zu einer meiner neuen Lieblingsstädte.
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