Erneut zog die Karawane von den Rängen der Försterei hinaus in die weite Welt. Aller zwei Jahre so scheint es, wird mit immer quälenderer Mühe eine Wette kreiert, welche die Mission hat, alle Beteiligten gemeinsam in die Ferne zu verfrachten. Der Anspruch hinsichtlich der Auswahl des Reiseziels ist dabei gleichermaßen hoch wie dem Zufall verpflichtet. Dieses Mal sollte es nach Belfast gehen. Nach ausgiebigen Portionen Osteuropas, garniert mit Schnupperkursen des belgischen Savoir-vivre ein gewaltiger Schritt. Exotisches Neuland lockte.Doch zuvor war der Weg das Ziel. Vier Züge, ein Schiff und ein Tunnel wollten erlebt werden. Allein in Bezug auf die Anreise verfügt dieser Ausflug wohl über etliche Alleinstellungsmerkmale. Da auf dem Rückflug auch die eher prosaische Fortbewegung des Fliegens genutzt wurde, waren alle Bewegungsmöglichkeiten im Einsatz. Der Eurotunnel verdient an dieser Stelle eine gesonderte Erwähnung. Dieser knapp 50 km lange Tunnel sowie der dazugehörige Zug beeindruckte mich zutiefst. In weniger als zwei Stunden rauscht man wie besinnungslos auf die Insel zu. Welch imponierende Schaffenskraft steckt hinter diesem Projekt?! Allein der Zug!
Von Fachleuten wird der Zug oftmals als der komplizierteste Zug der je gebaut wurde, bezeichnet. Der Eurostar ist in der Lage sowohl Stromschienen als auch Oberleitungen zu verwenden, wobei er bei letzteren kein Problem mit unterschiedlichen Spannungen hat (25 kV, 50 Hz Wechselstrom, 3 kV sowie 1,5 kV Gleichspannung). Hinsichtlich Höhe und Breite musste an das kleinere Lichtraumprofil Großbritanniens gedacht werden und das ursprüngliche Modell deutlich eingeschrumpft werden. Außerdem beherrscht der Zug alle drei Signalsysteme der befahrenen Länder – ein wahrhaftes Prunkstück der Eisenbahnerwelt. Und wohin fährt er?! In das Purgatorium des Schienenverkehrs – die schillernd chaotische Privatisierungshölle dessen was einmal das Mutterland der schönsten Fortbewegungsart der Welt war.
Fast ausschließlich Übles hört man seit den verheerenden Auswirkungen der Beeching-Axt vom britischen Eisenbahnsystem. Dergestalt Schreckliches hatte ich erwartet. Doch wie so oft übertrumpft das Miststück Realität jenes naive Ding namens Vorstellung. Die erste Reaktion auf unser Vorhaben nach Belfast per Bahn, bzw per SailRail fahren zu wollen, stieß auf die entgeisterte Gegenfrage, ob wir nicht doch lieber fliegen wollten. Wohlgemerkt, ein Mann der Bahn meinte dies. Wenn man jene in Virgin-Diensten stehende Kreatur wohlmeinend so bezeichnen möchte. Auf die Bestätigung unseres Ansinnens folgte eine zähe Recherche verschiedener Mitarbeiter, die in erschreckender Weise von Unkenntnis und Ahnungslosigkeit geprägt war. Als wir nach geraumer Zeit endlich die unscheinbaren Tickets in den Händen hielten, stöhnte der armen Mann, dass er in 30 Jahren noch nie ein solches Ticket ausgestellt habe. Armes England…
Darauf verlief die Reise erstaunlicherweise ohne besondere Vorkommnisse und bald schritten wir dem Belfaster Morgengrauen entgegen. Was habe ich nun aus den darauffolgenden sechs Tagen mitgenommen?! Knifflige Frage. Doch zunächst einmal zum Grundgefühl: In Belfast herrscht Friede. Freundliche, leidenschaftliche Menschen allerorten. Eine überraschend angenehme Fußballszene (hierzu in angemessener Ausführlichkeit des Fachmanns Analyse), ein intakter und halbwegs preiswerter öffentlicher Nahverkehr (Nordirland – verstaatlichte Eisenbahn – bloß keine Schlüsse ziehen!) und teuer Bier.
Was hatte ich mir vorher vorgestellt? Mein Bild von Belfast war geprägt von angegrauten Nachrichtenbildern der Gewalt und des Terrors. Bislang sah ich nie die Notwendigkeit mich näher mit dieser Problematik zu befassen, da meine Reisekreise der Vergangenheit diese Region gekonnt umspielten. Im Angesicht der nahenden Gruppenexpedition im Namen der Belle Époque las ich nun anfangs neugierig und mit der Zeit immer bestürzter von einem Konflikt, der diesen Landstrich und insbesondere Belfast über mehrere Jahrzehnte in ein irrationales Zahn-um-Zahn-Universum verwandelte. Nach Ansicht des Objekts blieben Fragen, aus irritierenden Antworten wurden weitere Fragen, welche sich in Unklarheit und Meinungsverschiedenheiten in respektabler Größenordnung mauserten.
Eingangs meinte ich bereits, dass in Belfast Frieden herrschen würde. Dies war durchaus mein Eindruck. Doch die Spuren der Vergangenheit sind unübersehbar. Die Fahnen, welche übereifrig an zahlreichen Häusern auf die Einstellung des Hauses hinweisen, Hinweisschilder an Pubs die kategorisch auf Aus- oder Abgrenzung bestehen. Doch was vielleicht mehr als alles andere deprimiert und die Abgründe der Vergangenheit aufzeigt, sind die mächtigen Zäune und Mauern, die zwischen den Vierteln darauf achten, dass die Bewohner dieser Stadt nur ja nicht zusammenkommen, weil sonst… Tja, weshalb eigentlich?
Dass jene bis in die Gegenwart hinein allzu oft scheinbar jede Gelegenheit nutzen um sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, steht außer Frage. Aber warum? Dies Frage trieb uns an einigen Abenden um. Klar, man könnte man meinen, dass es sich hier um einen glasklaren Religionskonflikt handele. Katholen auf der einen, Ketzer auf der anderen. Dazu noch eine Brise historische Besatzerwürze und fertig ist der Lack. Diese Ansicht ist verlockend und wird dem halbherzig Interessierten daher mit Vorliebe serviert. Auch ich nutzte annodazumals mein passives Viertelwissen um im Abituraufsatz zum Thema „Nathan der Weise“ den Nordirlandkonflikt heranzuziehen um die Sorgen des alten Mannes möglichst anschauungsreich und altklug zu bebildern. Doch ist es wirklich so einfach? Nein, wie üblich ist dem nicht so.
Der Nordirlandkonflikt, oder „The Troubles“ wie er auf den Inseln genannt wird, kann selbstverständlich nicht losgelöst von seiner Vorgeschichte betrachtet werden, doch versteht man unter ihm gemeinhin die Eskalation, welche Ende der 60er Jahre begann und sich bis in unsere Gegenwart hineinzog und dabei 3530 Todesopfer forderte (1841 hiervon waren Zivilisten). Anfangs war der aufkeimende Konflikt ganz klar inspiriert vom Zeitgeist bürgerrechtlicher Selbstbestimmungstendenzen. Martin Luther King und die Studentenproteste Europas führten schnell dazu, dass sich auch in Nordirland etwas gegen die bestehenden Ungerechtigkeiten regte. Dass die Proteste nicht lange friedlich blieben, mag vom wirtschaftlichen Niedergang dieser Zeit gefördert sein. Warum genau ab 1969 jedoch Gewalt und Unruhen unübersehbar zunahmen, gehört dennoch für mich zu einer der nicht wirklich geklärten Fragen. Die IRA, jene treibende Kraft der Gewalt der kommenden Jahrzehnte, war jedoch von diesen Ausbrüchen komplett überrascht. Nichtsdestotrotz gelang es ihr, nach einigen wirren Spaltungen und internen Grabenkämpfen das Heft zu übernehmen und fortan mit wechselndem Erfolg die Realität in diesem kleinen Zipfel Irlands mitzubestimmen.
All dies ist selbstredend so stark verkürzt wie unübersichtlich doch eines sticht in meinen Augen hervor: Die IRA und ihre zahlreichen republikanischen Splittergruppen sahen sich zweifelsfrei als Befreiungsbewegungen, die im Grundsatz für ein vereinigtes Irland stritten. Ein vereinigtes Irland aber auch definitiv unter dem Vorzeichen des Katholizismus. Soziale Zielstellungen waren zwar stets präsent, blieben aber den nationalen und religiösen untergeordnet. Und hierin begreife ich das fatale Missverständnis sämtlicher Bemühungen, die kompromisslose Sackgasse in der sich die Gewaltspirale jahrelang aussichtslos tummelte. Der Kampf gegen London und für den Abzug der Briten aus Nordirland übersah den Umstand, dass sich hier eine Anzahl von Menschen befand, die sich auch ohne die Unterstützung Englands mit allen Mitteln gegen eine Vereinigung mit der Republik Irland gewehrt hätten. Die Vereinfachung auf einen Kampf zwischen Protestanten und Katholiken greift hier zu kurz. Und dennoch stehen diese Begriffe als unüberwindbares Unterscheidungsmerkmal. Natürlich ist Religion immer nur der Deckmantel, das Etikett darunter brodelnder Gegensätze. Im irischen Fall kämpft ein diffuses Selbstverständnis von arm-bäuerlich gegen wohlhabend-industriell. Doch die konfessionellen Etiketten ziehen sich in Nordirland zäher als in anderen europäischen Regionen durch die Gesellschaft. Die Bedeutung der religiösen Zugehörigkeit auf andere gesellschaftliche Bereiche ist hier starrer und unüberbrückbarer. In den abgegrenzten Vierteln Belfasts entstanden so in der Tat eigene Ethnien, wenn man einen Ethnos so verstehen will, dass es sich dabei um organisierte Gruppen handelt, die sich ihre Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe hauptsächlich durch die Abgrenzung zu einer anderen Gruppe bewusst ist und sich ihr überlegen fühlt.
Daher konnte es in Nordirland zwangsläufig keinen Frieden geben solang man sich der Anerkennung der Realität verweigerte, und zwar dem Umstand, dass der entscheidende Punkt nicht in der Vereinigung von Territorien sondern in der Vereinigung von Menschen bestünde. Und genau dort stehen wir dann heute. Nachdem die IRA nach zähem Ringen einen Waffenstillstand zustimmte, dessen Inhalt sie genaugenommen auch schon 30 Jahre früher hätte unterschreiben können, geht es um nichts anderes als zaghaftes Aufeinanderzugehen und Kennenlernen. Diese Entwicklung, die sich seit nunmehr 15 Jahren schüchtern entfaltet, zu begutachten war eines der Hauptinteressen die mich bewegte als ich mich auf den Weg nach Belfast machte. Mein vorläufiges Fazit fällt hier überaus positiv aus. Zwar ist der Identitäts- und Machtkampf noch präsent und die Segregation der beiden Gruppen unübersehbar, doch die Tendenz zu einer gewaltlosen Option der Zukunft hat spürbar Aufwind. Zweifellos bin ich dennoch enorm verwirrt und irritiert von dieser Reise zurückgekehrt. Das Thema wird mich höchstwahrscheinlich noch länger interessieren. Lektüre- und Diskussionsabende werden sich zu dieser Problematik noch aneinanderreihen wenn die Erinnerung an das letzte Ale schon längst verblasst sind. Doch bis dahin drücke ich Nordirland die Daumen und gehe einfach mal davon aus, dass bei meiner nächsten Stippvisite der ein oder andere Zaun lässig zur Seite weggerostet ist.
This entry was posted in 2013, Texte