Wenn der Ossi an einem sonnendurchfluteten Sonnabendnachmittag flugs der Polin Hand ergreift um mit ihr an der frisch gerelaunchten Eastside Gallery entlangzuflanieren, dann ist es nahezu unvermeidlich, dass jener, mitunter zum Schwatzhaften neigende, sich in Erörterungen über dies und jenes, was sich da wohl im zeifllelos graueren, weil ostigeren, November zugetragen hat, erschöpft. Geschwind wirbelt der Gedanken Flug hin zu der uralten Frage über jene Dimensionen, welche zwischen den Wörtchen „das“ und „ein“ lagen in jenen Zeiten, welche wohl maßgeblich dazu beitrugen, aus einer Revolution eine Wende zu machen.Es war der altbekannte Weg sämtlicher Veränderungsbestrebungen – die unvermeidliche Vergewaltigung von selbstlosen Idealen, die, so ist hier die Natur der Sache, immer ein wenig zu naiv und schutzlos daher kommen, durch triviale Bedürfnisse der zuverlässig kurzsichtigen und leicht manipulierbaren Mehrheit. Dass die Mehrheit erst das Maul aufreißen darf, weil eben jene idealistische Minderheit sich geregt hat, dass diese Minderheit zumeist ob der tumben Forderungen jener verschreckt und angewidert in selbstüberzeugter Noblesse den Rückzug antritt, dass aber die Mehrheit ihre neugewonnene Freiheit nur dafür nutzt, sich eine neue Unfreiheit in anderem (meist schickerem) Design herbeizurevoltieren, ist die uralte Crux jeglicher sozialer Umgestaltungen. Wobei die wahre Crux ja noch die ist, dass dies sogar in Ordnung geht, denn schließlich hat die Mehrheit doch zu entscheiden. All dies vollzog sich also in der grauen, wilden DDR als im fernen Plauen erstmals die Forderung „Wir sind ein Volk“ erscholl. Vorbei war es mit „Wir sind das Volk“. Die Ablösung von utopischen, schwer zu fassenden Vorstellungen durch schnell erfüllbare, praktikable Nahziele ging mit prosaischer Gewandtheit vor sich. „Die Leute, welche damals ‚Wir sind das Volk‘ riefen, taten dies also nicht aus nationalen Beweggründen?“, unterbrach mich sonnenverblinzelt die Polin. Mit distinguierter Geste ob dieser, ihm nahezu absurd erscheinenden Aussage, wandte sich der geschichtsverplauderte Ossi jenem Gesichtsausdruck zu, den er ach so gut kannte. Jene Mischung aus Skepsis und Lässigkeit, die sie immer wieder zeigte wenn es um die angeblich so bedeutenden Veränderungsbemühungen der Deutschen ging. Geschichtsinteresse hin, Politikverständnis her – auch ohne viel Details über die jüngere Vergangenheit zu wissen, so existiert dann immer noch so etwas wie ein kollektives, historisches Unterbewusstsein. Dieses ist verbrämt durch unreflektierte Schuldzuweisungen, ausgeschmückt durch Legenden und verfeinert durch das Vergessen des Unbequemen. Im polnischen Fall weiß dieses von unaufhörlichen, blutigen Aufständen in denen man stets gegen Stärkere kämpfte und noch steter unterlag, von wirklicher Not und Entbehrung und respektloser Auflehnung gegen eben diese. Dieser bedingungslose Freiheitswillen musste dann auch, quasi in historischer Notwendigkeit, dazu führen, das Sowjetimperium endgültig auf den Kehrichthaufen der Geschichte zu fegen. All dies mag in jenem Blick stecken, aber vielleicht übertreibe ich auch, dennoch fällt die Analyse von Bürgerbewegung, Mauerfall und Einheit dergestalt trocken aus: „Komisch, ich hatte immer gedacht, dass die Leute auf der Straße gestanden hätten und erneut DAS Volk propagierten, während die anderen zu relativieren versuchten, in dem sie meinten, dass es nur eines von vielen wäre.“So gesehen. Mir jedenfalls brachte diese Perspektive die nötige historische Laune um dieses Jubiläum gebührend zu feiern! In diesem Sinne – gedenken wir dem wohl ereignisreichsten Tag in der deutschen Geschichte! Denn, Nummerologen aufgepasst, an diesem Tag ist mehr passiert als Reichskristallnacht und Novemberrevolution.