Reisezeit heißt für mich auch unweigerlich Lesezeit. Nicht dass das im Rest des Jahres grundlegend anders wäre, aber die Auswahl der Lektüre und der Genuss am Lesen ist auf Reisen doch etwas spezieller. Hat man einerseits bei jeder Reise die selektierende Vorfreude im Blick, Bücher auszuwählen, die zum Reiseland passen oder die man schon immer lesen wollte, für die man aber im brummenden Alltag keine Muße findet. Und ist andererseits ein Buch, welches man während eines notgedrungen, ewigen Aufenthalts an irgendeinem Provinzbahnhof oder auf einer verregneten Chata liest, für immer von einer Erinnerung geprägt, an die man stets denken wird, wenn der Blick flüchtig über das Bücherregal streift. Im Falle des Kalenderblattmörders von Marek Krajewski war die Entscheidung klar von der Motivation geleitet, wenigstens irgendetwas Polnisches dabeizuhaben. Zweifellos war dies nicht meine erste Wahl, doch alle Bücher, die ich vorgezogen hätte, befanden sich aufgrund erschreckender Neuauflagenlethargie in unereichbarer antiquarischer Preislage (Beispiele gefällig? Das Nationalepos Polens, Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz wurde das letzte Mal 1963 in Deutschland aufgelegt und kann bei amazon zum Spottpreis von 120 € erworben werden. Oder DER Vertreter der polnischen Moderne, Władysław Reymont, und sein unzweifelhaft lesenswertes Buch „Das gelobte Land“ – hier blieb es tatsächlich bei der 1916er-Auflage und so ist der Preis bei berechtigten 150 € angekommen. Selbst vielversprechende, zeitgenössische Autoren wie Olga Tokarczuk werden nur halbherzig verlegt, so dass ihr international erfolgreichster Roman „Ur und andere Zeiten“ mittlerweile erbarmungslos vergriffen ist.) Aber genug gezetert. Auch wenn Krimis gemeinhin nicht zu meinen favorisierten Sujets gehören, ließ mich die Szenerie, welche Krajewski in seinen Romanen offenbar erschafft, aufmerken. „Der Pole hat für seine Tetralogie um den rüden Kriminalrat Eberhard Mock, das Breslau der späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre rekonstruiert. Mit seiner rechercheaufwändigen, sehr detailliert vorgetragenen Darstellung der damaligen Hauptstadt Niederschlesiens leistet Krajewski nicht nur eine atmosphärisch dichte Beschreibung der verruchten Roaring Twenties an der Oder, sondern reanimiert zudem eine dem Untergang geweihte Stadt, deren Würde und Schönheit allmählich von marodierenden Nazis ausgehöhlt wird.“ (Die Welt, 3.4.07)Und dies trifft tatsächlich ungeschmälert zu. Die Bücher von Krajewski, welche in Polen etliche Preise eingeheimst haben, werden hier oftmals ‚Retro-Krimis‘ genannt. Das ist keinesfalls abfällig zu verstehen, sondern bedeutet vielmehr, dass der Autor dem in Polen relativ jungen Thriller-Genre eine historische Tiefenschärfe zukommen lassen hat, die bislang die absolute Ausnahme war. Außerdem ist er in der Lage sprachgewaltig und wissenschaftlich korrekt bis hin zum ausführlichen Verzeichnis historische Straßennamen, deutsche Prägungen einer Stadt zum Leben zu erwecken, die es so nicht mehr gibt. So entsteht gewissermaßen neben der Krimihandlung ein einzigartige Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse der 20er Jahre in der Weimarer Republik. Kenner der Materie mögen jetzt einwenden, dass genau dies einen guten Krimi auszeichnet. Wenn dem so ist, will ich nichts gesagt haben und fürderhin diese Art von Kriminalromanen durchaus zu meinen Lieblingssujets zählen. Fazit: Dieses Buch ist so ungewöhnlich wie empfehlenswert. Ein Buch, nach dessen Auslesen ich in den Bergen das unwillkürliche Begehren spürte, unbedingt den nächsten Band in die Hand zu nehmen. Doch der nächste deutschsprachige Buchladen war unangenehm weit entfernt. Ein Problem, was ihr nicht habt. Worauf wartet ihr also?!