Schon immer hatte ich eine stark ausgeprägte Vorliebe für alternativhistorische Bücher. Die „Was-wäre-wenn“-Debatte gewinnt doch um einiges wenn sie aus verrauchten Kneipen und verschwommenen Annahmen herausgenommen wird und in einem Buch, wohl recherchiert, Gestalt annimmt. Dies ist natürlich nicht immer so. Speziell dieses Sujet ist voll von Scharlatanen und Wichtigtuern. Vorsicht ist also angebracht. Das soeben genossene Buch, I.N.R.I: oder die Reise mit der Zeitmaschine, gehört diesbezüglich vielleicht nicht zu den Flaggschiffen, ist aber auch definitiv kein Rohrkrepierer.
Letztlich beschäftigt sich Moorcock, respektive seine neurotische Hauptfigur mit jener Frage, die von jeher zum Grundinventar einer gepflegten Diskussion zwischen Atheisten und Christen gehört: Hat es Jesus tatsächlich gegeben? Und wenn, was war er in Wirklichkeit für einer?
„Aber was war zuerst da? Die Idee oder die Wirklichkeit Christi?“Sie zuckte die Achseln. „Wenn schon, dann die Wirklichkeit. Jesus war ein jüdischer Unruhestifter, der einen Aufstand gegen die Römer organisiert hat. Er wurde gekreuzigt, weil er Ärger gemacht hat. Das ist alles, was wir wissen und wissen müssen.“„Eine große Religion kann doch nicht so einfach entstehen.“„Wenn die Menschen eine brauchen, dann erschaffen sie eben aus den unwahrscheinlichsten Keimen eine große Religion.“Dieser Wortwechsel kommt einem dann doch recht bekannt vor. Hätte problemlos gestern oder vor drei Jahren in einem beliebigen Lokal stattfinden können. Selbstredend offeriert das Buch hierfür keine Lösung. Hier wird lediglich mit den vorhandenen Indizien und Möglichkeiten jongliert. Heraus kommt dabei ein Roman, der auf erstaunlich wenig Seiten so relativ alles abhandelt, was die späten 60er umtrieb: die Abgründe, Tabus und Unzulänglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen, der Sexualität, Religion, Philosophie und Politik. Fazit: Ein gleichermaßen krankes wie erfrischendes Buch, welches dem Thema zwar nichts sonderlich neues hinzufügt, aber eben auch den Anstand hat, nichts anderes zu behaupten. Für Fans wie Skeptiker religiöser Urkeime ein lohneswerter Lesespaß.