800 Tage! Ein Sommerhunderter und damit natürlich ein sehr divers gestalteter Hunderter. Lange Tage – ob auf dem Rad, zu Fuß, im Zug, am Strand oder einfach nur ermattet, hechelnd die Balkanbullenhitze um Erbarmen anflehend – es war ein kunterbunter, erlebnisreicher Sommer mit viel Freund‘ und Familie, altbekannt oder frisch kennengelernt. Unsere Sommerferien in Jugoslawien sind in zwei Berichten hier und hier kurz zur Sprache gekommen. Wir erkannten bei unserer mehrwöchigen Tingelei durch Jugoslawien, dass wir keine Geduld oder Lust mehr haben uns in die Abhängigkeit von Bahn, Bus und Auto zu begeben. Somit legten wir den Plan zu den Akten, diesen Winter die Räder stehen zu lassen und als klassische Rucksacktouristen weiterzureisen.
Später mehr zu den Zukunftsaussichten. Die letzten 100 Tage verbrachten wir nicht nur mit Sommerfrische, es wurde auch sehr, sehr, sehr heiß. Und dennoch ließen wir uns nicht vom Radfahren abbringen. Obwohl wir weite Teile des Balkanparcours im Schichtsystem (von 6 bis 12 und von 18 bis 20 Uhr) hinter uns brachten. Wobei der Teil nach den Sommerferien, von der kroatisch-serbischen Grenze die Donau hinunter, quer durch Bulgarien und Thrakien bis zum Mittelmeer schon den bedeutenderen Teil der Radreise darstellt. Schließlich schafften wir es sogar noch einen zweiten Tausender hinzubekommen und nicht nur irgendeinen, sondern die 20.000, die halbe Erdumrundung. Da hält man doch mal kurz inne und überlegt was nun die neue Messlatte sein könnte? Ist die komplette Erdumrundung drin, wer weiß?! Zunächst richten wir die Aufmerksamkeit auf die 22222.
Doch so schön alles auch ist, natürlich wiegt der erfahrene Radnomade spätestens ab August den Planungsschädel hin und her auf der Suche nach adäquaten Lösungen wie man denn dieses Jahr mit dem Winter umgehen solle. An und für sich schwebte uns nach zwei klimatisch gesehen, mittelzufriedenstellenden Afrikaaufenthalten etwas vor, bei dem es dieses eine Mal wirklich keinerlei Temperaturkümmernisse geben sollte. Ostafrika oder Südostasien schwebten im Raum – ein Winter ohne Socken schien in greifbarer Nähe! Doch dann kamen die Möglichkeiten, die sich mit den Umständen und andern Kräften verbündeten und schließlich schauen wir nun einem Winter in Georgien entgegen.Wir haben dort ein Dach über dem Kopf und eine Heizung zur Verfügung, aber ein T-Shirt-Winter wird es mit Sicherheit nicht werden.
Tagesbeschäftigung
Dieser lila Graph fläzt quasi genauso entspannt herum wie wir es in diesem Sommer oft genug praktizierten. Viel rum- und abhängen, garniert mit Wandern und transportiert werden. Ein ganz normaler Sommer also.
Übernachtungen
Die Übernachtungssituation wurde bei diesem Hunderter von zwei Faktoren geprägt: Besuch und Balkan. Erstere verwöhnten uns oft genug mit Unterkünften und Letzterer ebenso. Luden uns Freunde und Familie in ihre Ferienheime ein, taten dies die Menschen zwischen Bačka Palanka und Sliwen gleichermaßen ohne uns annähernd so gut zu kennen wie die erstgenannte Bezugsgruppe – ein großes Hvala-Mulţumesc-Благодаря daher nochmals an all die wunderbaren Menschen des Balkans.
Länder
77 Tage hätte Jugoslawien für sich verbuchen können wenn, ja wenn man nicht dem elenden Fluch der Kleinstaaterei gefrönt hätte. Mit 77 Tagen würde man mühelos Tunesien überflügeln und schließlich auf einem undankbaren aber dennoch respektablen 4. Platz landen. Ansonsten bleibt Italien weiterhin unangefochten an der Spitze (und wird es wohl für den Rest dieser Reise auch bleiben), gefolgt von le France – mon amour und einem überraschend großartigen Spanien. Schauen wir mal ob es zumindest auf dem Siegertreppchen noch Veränderungen geben wird – 125 Tage als Einstiegsklausel sind allerdings kein Pappenstiel.
Als großartigste Entwicklung der letzten Radwochen möchte ich hier das Einpendeln eines gemeinsames Tempos erwähnen. Es ist nun nicht so, dass wir die letzten zwei Jahre grundlegend aneinander vorbeigefahren wären, aber seit dem Sommerurlaub und dem Austausch grundlegender Komponenten (neues Hinterrad bei mir, neuer Riemen bei ihr) flutscht es einfach nochmal auf einem ganz anderen Niveau. Die 80km-Tagesetappe ist die neue 60er und wir spüren beide keine allzu große Erschöpfung nach solchen Tagen. Wer hätte gedacht, dass jahrelanges Radfahren sich irgendwann auch mal bei der Leistungskurve bemerkbar macht?!
Insgesamt: 20.139km – 1450 Stunden
Obwohl wir ein gerüttelt Maß an Nicht-Radtagen verbuchten (ganze 68 Tage verbrachten wir in diesem Hunderter nicht im Sattel!) legten wir trotzdem erkleckliche 2439km hinter uns. Das war natürlich hauptsächlich der sanften Mutter Donau und ab und an einer guten Portion Rückenwind zu verdanken. Und ja, wir werden einfach auch immer fitter. Bei 32 offiziellen Radtagen ergäbe das einen phänomenalen Tagesschnitt von 76,2km. Das klingt dann aber doch sehr übertrieben und liegt hauptsächlich daran, dass ich Tage unter 30km nicht als Radtage berechne, die Kilometerzahl aber dennoch einfließen lasse. Wenn ich alle Streckenkilometer der 32 Radtage zusammenrechne komme ich auf 2109km, was einem bereinigten Tagesschnitt von 65, 9km ergibt und auch noch eine klare Aussage ist.
Die Zahl des Taghunderts
106316
Bereits am 1. September, dem 774. Reisetag, war es soweit – das Logbuch des Forumslader bestätigte das Erklimmen, Erklettern und Erkeuchen von 100 Höhenkilometern. Mittlerweile stieg diese Zahl natürlich noch ein wenig an und pendelte sich an Tag 800 bei 106,31km ein. Es mag vermessen (im wahrsten Sinne des Wortes) klingen, aber im ersten Augenblick erschien mir diese Zahl sogar ein wenig gering. Etwas über 100km auf über 20.000 Streckenkilometer? Dafür erschien mir das ständige Geschiebe zu omnipräsent. Nach der Formel, Gefälle [Prozent] = (Differenz Höhe [cm]/Streckenlänge [cm]) * 100, ergäbe das nur ein lächerliches Gefälle von 0,5% … Nunja, erwähnte ich schon, dass der Forumslader des öfteren ausgefallen ist? Irgendwie muss es wohl daran liegen. Trotzdem: Hoch die Tassen! Auf den nächsten Hunderter!!!
Liegengeblieben
Wie gerne hätte ich diese Kategorie einmal leergelassen und sehr lange sah es verdammt gut aus. Doch dann geschah es, diese Mischung aus Routine, Lässigkeit und Verhuschtheit. Und schon lag meine getreue Trinkflasche, die mich seit nunmehr gut einem Jahrfünft begleitete, mehre Kilometer hinter mir und nach kurzem Abwägen ließ ich sie auch dort. Zumindest einer dieser Verluste mit denen man halbwegs leben kann: Kein großer materieller oder ideeller Schaden sowie man weiß genau wie es passiert ist. Nichts ist schlimmer als Sachen zu verlieren und nicht zu wissen, wie es geschehen ist.
Außerdem ließ die Liebste ihre Sonnenbrille auf der Ziegenfarm in Montenegro.
Sonstige Wegmarken
- 11 Speichennippel wechselte ich seit Portugal, also in den letzten neun Monaten und verlor bei jedem Mal etwas mehr Angst vor dem ehemals als kompliziertes Hexenwerk wahrgenommenen Auswuchten und Austarieren eines Laufrads. Der Kurzbesuch in Dresden Anfang Juli beendete diese zeitraubende Flickschusterei und bescherte mir ein neues Hinterrad. DT Swiss 535 mit endverdickten Speichen und Stahlnippeln.
- Natürlich war auch ein neuer Riemen fällig! Nach unserer Schiebe-Roll-Fluch-Episode war das unvermeidlich. Dieser Moment als mitten, im noch so wahrgenommenen Mitteleuropa der Riemen riss und all die schicken Metropolen von Ljubljana über Zagreb bis Venedig nicht aushelfen konnten, offenbarte uns auf eindrücklichste Weise, auf was für eine Nischentechnologie wir da gesetzt hatten. Auch die Idee eines Reserveriemen verwarfen wir schnell, denn wir vermuteten, dass dieser Riemen, welcher ja als Reserve mehrere tausend Kilometer von uns transportiert wurde, deshalb so schnell den Geist aufgab (keine 5000km) weil ihm der Transport nicht so Recht bekommen war. Nein, die Devise heißt nun, nachdem wir uns auch bei dem Riemen für eine Qualitätsstufe höher entschieden haben: Mal schauen wie er sich macht und wenn er halt wieder reißt geht’s zurück zur Kette.
Aussichten, Ansichten & allgemeines Befinden
Die mittelfristigen Pläne für die nähere Zukunft ließ ich ja weiter oben schon kurz durchblicken. Langfristig soll es nun endlich richtig gen Osten gehen. Der Sehnsuchtsort, der alte Traum von Zentralasien, der uns schon 2019 motivierte, aufs Rad zu steigen, uns dann aber von der Seuchenapokalypse verwehrt wurde, steht erneut auf dem Menü. Die Idee ist nun, dass wenn wir den Winter in Georgien verbringen, wir ja quasi schon auf halben Wege nach Zentralasien sind. Klar, dafür gibt es noch einige „Grenzformalitäten“ und sonstige Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber prinzipiell sind wir hier in einer ganz guten Ausgangsposition um so viel wie möglich vom so kurzen wie intensiven Kontinentalsommer dieser Gegend mitzunehmen. Wie es danach weitergeht, wo der nächste Winter verlebt werden soll? Das entzieht sich noch unserer Kenntnis. Wir sind schon recht stolz auf diesen knappen Ein-Jahres-Plan. Nur eines wissen wir ziemlich sicher: Nach Hause bitte noch nicht. Denn das Rückgrat dieser Reise, die drei großen G: Gesundheit, Geld und große NeuGier bestehen noch und halten an. Auch wenn wir erkennen mussten, dass mit Gesundheit nicht nur die Unsrige gemeint ist, die Neugier immer selektiver und anspruchsvoller wird, ja und Geld, ach, lassen wir das lieber…
Außerdem beobachten wir an uns beiden eine immer größer werdende Distanz zur zurückgelassenen „Heimat“ und der ehemaligen Lebenswirklichkeit. Befindlichkeiten werden fremd, Bedürfnisse absurd, Ängste banal. Zwar reden wir dieses Mal häufiger und offener als bei der letzten Langzeitreise über den Tag X und die hiernach erfolgende Wiedereingliederung in mehr oder weniger bürgerliche Existenzformen, doch die Vorstellung davon lässt uns immer mehr erschauern. Es ist nicht nur die Freiheit, die meisten Tage so zu gestalten wie man möchte, vielmehr ist es wohl eher die liebgewonnene Möglichkeit, immer wenn es uns irgendwie nicht ganz so behagt, weiterzuziehen. Die Vorstellung, nach Jahren der Rumtreiberei, beim Versuch wieder sesshaft zu werden, auf all die lauernden Animositäten eines Daseins von Mitmenschen, Infrastruktur oder Lohnarbeit nicht reflexhaft wie folgerichtig erneut mit Flucht zu reagieren, ist leider sehr naheliegend und bereitet uns größte Sorgen. Aber noch ist es nicht soweit, noch können wir jegliche Gedanken an Heimkehr wie einen bösen Traum verscheuchen.