Zugegeben, eigentlich hätte hier bezüglich Montenegro schon seit längerem so etwas wie “Frisch entdeckt” oder “Frisch erlebt” stehen sollen, doch die versprochene, ausführliche Länderrezension muss noch warten. Dies hat nur zum Teil mit dem Umstand zu tun, dass der mitgereiste Fotokommissar seit eben jenem Balkanausflug in heimischen Gefilden nicht mehr gesehen wurde. Vielmehr spürte ich beim Versuch der Niederschrift wie schwierig diese werden würde. So klein Montenegro auch ist, es fällt schwer ein ganzes Land angemessen zu charakterisieren. Insbesondere wenn es ein derart vielfältiges und reizvolles wie Montenegro ist. Außerdem, so groß- und einzigartig Menschen, Klima, Natur, Essen und Grundstimmung in den schwarzen Bergen auch ist, so bleibt es dennoch “nur” Bestandteil jenes untergegangenen Gesamtkunstwerks namens Jugoslawien. Eine Komposition, dessen leidenschaftlicher Anhänger ich immer stärker zu werden drohe. Daher kann ein wenig untermauernde Lektüre nicht schaden. Dem interessierten und informationshungrigen Jugoslawienbegeisterten wird dabei jedoch recht schnell bewusst, dass seine Gier gar nicht so leicht wie erwartet gestillt werden kann. Abhandlungen über Tito, Österreich-Ungarn, den Dritten Weg oder einfach nur Jugoslawien sind entweder hoffnungslos veraltet, von zweifelhaften Ursprung oder schlicht noch nicht geschrieben (besserwissende Tipps nehme ich dankend entgegen!). So greift der verzweifelte Jugoslawienschüler auch mal zu Büchern, die er sonst eher verschmäht hätte. Bücher mit dem Untertitel “Eine Familiensaga im Jahrhundert der Konflikte” gehören sonst eher zu der Kategorie welche ich schaudernd in der Bahnhofsbuchhandlung vergilben lasse. Doch auch wenn ich mich auf den ersten Seiten bestätigt fühlte, stellte es sich keineswegs als völliger Missgriff heraus. Schwierigkeiten machte mir zu Beginn einerseits die Unentschlossenheit des Genres – das Springen zwischen historisch-politischem Kontext und persönlichen Erinnerungen mag zwar seinen Reiz haben und in gewissen Fällen sogar einen vorzüglichen Blick auf Vergangenes ermöglichen, jedoch nicht wenn der Faktenteil arg verkürzt ist und die persönlichen Momente allzu oft einen übermäßig konstruierten Eindruck machten. Wenn sich bspw. in den persönlichen Erinnerungen eines Kindes ständig wie gestanzt wirkende, pathetische Erklärungen und Ausrufe anderer häufen, dann ist man zwar anfangs versucht es auf die inbrünstige Rhetorik des Balkans zu schieben, winkt aber beizeiten nur noch ab. Ähnliches gilt für andere Einschätzungen seiner Umwelt, ob privater wie öffentlicher Natur. Die verdrehte Überhöhung beider Faktoren wird am deutlichsten an der Beschreibung seines Vaters nach dem dessen Mutter verstorben war.
Es war das erste Mal, dass ich meinen Vater weinen sah. Es war sicher sein italienisches Erbe, das da durchbrach, denn montenegrinische Männer weinen nicht.
Und dennoch. Dennoch war dieses Buch keine Zeitverschwendung. Schließlich bot es bei aller Verkürztheit und merkwürdiger Ansichten einen interessanten Einblick in dieses Jahrhundert – aus jugoslawischer Perspektive. Der Titel ist an sich eine verlegerische Frechheit. Auch wenn der Autor offensichtlich überzeugter Montenegriner ist, so ist er doch in erster Linie selbsterklärter Jugoslawe. Der englische Titel lautet “Life and Death in the Balkans” – etwas reißerisch aber eher zutreffend. Zwar beschäftigt sich das Buch überwiegend mit der Zeit des Partisanenkampfs, die interessanteren Details fanden sich für meinen Geschmack jedoch in den Abschnitten vor und nach dem glorreichen Widerstand der Tito-Partisanen gegen die Besatzer (wobei auch hier zum Teil offen angesprochen wird wie schmutzig dieser Krieg und wie wichtig die Unterstützung der Briten war!). So füllte ich Wissenslücken über Montenegros Rolle im Ersten Weltkrieg, verstand mehr was die Bedeutung des Königreichs Jugoslawien war und vertiefte nochmals die Bedeutung der Amselfeldschlacht und des Kosovo-Dilemmas. So richtig interessant wurde es für mich aber erst nach der Befreiung. Der unabhängige und selbstständige Werdegang Jugoslawiens, respektive der Bruch Titos mit Stalin wird heute von vielen anerkennend oder gar wohlwollend goutiert. Erst durch diese Lektüre wurde mir vollauf bewusst gegen welche enormen Widerstände Marschall Tito diese, seine Entscheidung durchsetzte. Schließlich hatten große Teile der Partisanenbewegung nur im Vertrauen auf die Sowjetunion und ihren allwissenden Anführer Stalin Widerstand geleistet. Die Bedeutung, die der einzige sozialistische Staat für das Selbstverständnis und dien Antrieb der Partisanen hatte, kann nicht hoch genug bewertet werden. Folgerichtig wurde auch in der Anfangszeit der jugoslawische Staat fast deckungsgleich zum sowjetischen angelegt. Daher waren nach dem Bruch viele jugoslawischen Genossen überaus verwirrt und hofften inständig, dass sich der Streit bald wieder legen würde. Dies tat er aber bekanntlich nicht. Ansonsten handelt Tomasevic die Nachkriegszeit erstaunlich knapp ab. Außer der überraschenden Episode, dass er als Dolmetscher den Absturz der Unglücksmaschine, welche 1958 mit der Manchester United abstürzte, überlebte, erfahren wir denkbar wenig über die Zeit in der der Vielvölkerstaat “funktionierte”. Möglicherweise ist dies aber auch ein unbewusster Indikator für das temporäre Gelingen des Projekts Jugoslawien. Was gibt es zu erzählen über ruhige, vergleichsweise harmonische Zeiten? Seine Beschreibung des Zerfalls Jugoslawiens lassen abermals aufmerken. Aus seiner Sicht ist der Zusammenbruch ein von kleinen, aber immer mächtiger werdenden Cliquen inszenierter Akt, der niemals die breite Zustimmung der Massen hatte. Bis zuletzt versucht Tomasevic mit einem in letzter Minute gegründeten gesamtjugoslawischen Fernsehsender Vernunft und Einheit gegen den aufbrandenden, irrationalen Nationalismus zu wirken. Doch wie wir wissen, konnte er den Trend der Zeit nicht aufhalten. Jugoslawien zersplitterte blutig und beruhigte sich nur langsam. Dank diesem Buch verstehe ich wieder etwas mehr, versinke in novembriger Traurigkeit ob der vergebenen Möglichkeiten und träume vom nächsten Ausflug nach Jugoslawien. Fazit: Eher Speziallektüre für den unstillbaren Jugo-Wissenshunger. Die nicht ganz so stark Infizierten können das Buch aber bei Gelegenheit gerne von mir ausleihen.