Zurück aus der magyarischen Wildnis möchte ich mit all meinen Erfahrungen und Beobachtungen nicht knausern sondern sie einem, wie gewohnt wissbegierigen und anteilnehmenden Publikum präsentieren. All meine nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich ausschließlich auf den Norden Ungarns. So wahnsinnig, dass ich das südliche Ungarn per pedes entdeckt hätte, bin ich dann doch noch nicht.
Eins
wie zu allererst zu klären: Kann man überhaupt wandern in Ungarn? Aber selbstverständlich. Wo könnte man das nicht?! Aber macht es auch Spaß, solang man irgendwann mal an diesem fragwürdigen Hobby Spaß gehabt hat. Sicher. Der kleine, etwas verflachte Pufferstaat im Südosten hat alles was man zum würdigen Bergwandern braucht: markierte Wanderwege, Wanderkarten in anständigem Maßstab, Getränkequellen in annehmbaren Abständen und ein entspanntes Verhältnis der Einheimischen zu jenem seltsamen Treiben, dem man da vor seiner Haustür nachgeht. Grundsätzlich ist man hierbei nämlich dann doch recht einsam.

Der Ungar hält gemeinhin zwar viel von Frischluftbeschäftigung – schließlich kann allein sein verehrungswürdige Nationalgericht, der Kesselgulasch nur unter freiem Himmel angemessen gedeihen – doch das Wandern in seiner rucksackbewehrten Autarkieform gehört offensichtlich nicht in das vielfältige Repertoire des Magyaren. Fahrradfahren, Kanufahren, Autofahren – mit Hilfsmitteln ist er gern zugegen in der Natur, doch so ganz ohne eher weniger. Prinzipiell kann hierzu aber auch gesagt werden, dass er mit dieser Einstellung im europäischen Vergleich nicht wirklich eine Sonderstellung vertritt.
Zwei
wie zwei Dinge die im allgemeinen Vergleich herausragen und daher gesondert gewürdigt gehören: Das Wetter und das Zelten. Zunächst zum ersten Punkt. Ich gestehe freimütig, die Entscheidung für Ungarn fiel hauptsächlich aus meteorologischen Erwägungen. EB wunderbar, Horizonterweiterung immer gern, aber der wirklich entscheidende Punkt waren die Wetterprognosen. Was nützt der wildeste Berg und die atemberaubendste Schlucht, das gewaltigste Naturspektakel wenn man die kostbare Urlaubszeit bei Regen im Zelt verbringt?! Dies erlebte ich ja nun in den letzten Jahren oft genug. Daher das sonnige Ungarn. Und es enttäuschte nicht. War das eine unfassbar lange Phase an trockener, windstiller Hitze. Was habe ich geschwitzt und geflucht! Und dennoch – das war es eben was ich haben wollte – Kein Gedanke an die Witterungsbedingungen, nicht den steten kummervollen Blick gen Firnament. Sorgenlosigkeit pur – Wandern wie ich es von früher in Erinnerung habe – ein Traum!

Die andere Sache, die mich sehr überzeugt hat war die Einstellung der Ungarn zum Zelten überall und überhaupt. Nun bringt der gewöhnliche, sesshafte Europäer dem Zelten nur geringfügig mehr Verständnis auf als der hilfsmittellosen Fortbewegung durch den Wald entgegen, auch wenn bezüglich des Zeltens immer noch eine Spur mehr Mitleid im Spiel ist, doch hinsichtlich der Erlaubnis zum kostenfreien und uneingeschränkten Zelten im Überall bringt der Ungar eine bislang kaum gekannte Freizügigkeit mit. Ob es nun die Sorge ist, den armen Irren mit Einschränkungen nur noch mehr zu verwirren oder die libertäre Einstellung aus alten Nomadentagen, man weiß es nicht. In jedem Fall ist dieser Umstand sehr lobenswert und macht das Reisen in meinem Stil sehr entspannt.
Drei
wie eins geht noch. Was hatte ich mich im Vorfeld gesorgt, dass die Welt der ungarischen Getränke meinen Bedürfnissen so gar nicht entgegen kommen würde. Kratziger Palnica, kreischig-süßer Wein und unzumutbares Bier waren meine Vorstellungen. Ich konnte nicht wirklich etwas gegen diese Vorurteile unternehmen, da ich keinen Handlungszwang hierzu sah. Im gesamten nördlichen Ungarn, jedenfalls in jeder Gastwirtschaft in der ich meinen verschwitzten Leib kurz labsalte, gab es stets mehrere Biere vom Fass und eins davon kam stets aus der tschechoslowakischen Bierseligkeit. Das gefiel ungemein. Schön die eigenen, zugebenerweise geringen, Unzulänglichkeiten sich selbst einzugestehen und hinsichtlich so heikler Fragen wie Bier es gar nicht erst zu versuchen, sondern sich vertrauensvoll an die Nachbarn zu wenden. Warum machen das nicht alle so? Weil nicht jedes Land auf der Welt Tschechoslowaken als Nachbarn zur Verfügung hat?! Mag sein. Ich sehe aber durchaus auch andere Motive als denkbar an.

Vier
wie Verbesserungswürdiges. Getreu der alten Motivierungsmasche zunächst das Positive aufzuzählen um dann den Kandidaten richtig runterzuputzen, kommen wir nun zur Kritik. Deshalb hier ein paar grundlegende Aspekte zum Thema Wanderwege. Ich hatte ja eingangs schon angedeutet, dass die Fernwanderei offensichtlich nicht zu den geläufigen Beschäftigungen der Pannoniker gehört. Dennoch, wenn man sich zu den Fernwandernationen hinzureiht, gehört ein wenig Know-how und sachgemäße Umsetzung schon dazu. Aber der Reihe nach. Wenn man als Land größtenteils mit unendlichen Wiesen und sogenanntem Gebüschwald ausgestattet ist, sollte man sich über aussagekräftige Markierung der Wanderwege Gedanken machen.

Weithin sichtbare Pfähle oder schlichte Wegweiser haben hier schon Großartiges geleistet. Und zum anderen, meine lieben Ungarn, der von mir hochgeschätzte EB wird in allen anderen beteiligten Ländern rot gekennzeichnet. Ein schlichter Aufmerksamkeit erzeugender roter Strich, umrahmt von zwei weißen Strichen. Weil in den professionellen Wandererländern rote Wege gemeinhin als jene Wege stigmatisiert sind, die weite Strecken zurücklegen, über Kämme verlaufen und die Zivilisation zu meiden suchen. Außerdem ist rot-weiß an sich eine über alle Maßen angenehmere Farbkombination als, so wie ihr das tatsächlich versucht, blau-weiß.

Jetzt kommt schon, Ungarn, was hat man jemals gutes von blau-weiß gehört. Wenn schon, dann vielleicht himmelblau, aber da kommen wir ja noch zu einer anderen Sache, weshalb sich rot-weiß als Fernwanderwegsfarbe bei den Profis durchgesetzt hat. Blau-weiß ist in der Natur, insbesondere in einer so Verschwurbelten und Verbüschelten wie du sie dein eigen nennst, denkbar schwer zu erkennen. Also komm Ungarn, gib dir ´nen Ruck, vergiss auch sämtliche Ressentiments, die du der Vergangenheit wegen möglicherweise noch gegen die Farbe Rot hegen magst und pinsel die Zeichen um.
Fünf
wie Wanderwegsoriginalität. Ja, dann nämlich doch. Denn ich habe hier etwas vorgefunden, was ich so noch nirgendwo gesehen habe und was auf elegante Weise meine Neigung des hamsternden Stempelns (s. EB-Wanderbuch) wie auch meine neuentdeckte Leidenschaft des kombinierenden Suchens (s. geocaching) bedient. Folgendes hat man sich hier ausgedacht: Der bewusste Fernwanderweg, hier auch E4 genannt, bzw Kektura, welcher aber komplett und lückenlos der ungarische Streckenteil des früheren EBs ist, wird durch eine muntere Anzahl von Stempelkästen (s. Abbildung unten) begleitet. In den offiziellen Karten kann man sehen in welchen Dorf, Gipfel o. ä. so ein Stempelkasten sein muss, wo genau er sich befindet, weiß man damit aber noch nicht. Selbstverständlich gehört dank dieser Einrichtung ein Stempelkissen zu den elementaren Ausrüstungsmerkmalen des Fernwanderers, aber was soll’s, das wär’s mir wert. Nochmal, eine tolle Idee!

Sechs
wie das Land der unfassbar einladenden Wiesen. Ein leichter anklagender Ton der Waldkritik ist ja schon angeklungen. Diesbezüglich können die Ungarn in der Tat keine großen Sprüche klopfen. Dies trifft jedoch in keinster Weise auf ihre Wiesen zu. Saftig-duftend wehen sie einem unaufgefordert fast überall entgegen und scheinen zu flüstern “Nun, Wandersmann, wie wäre es mit einer kleinen Pause? Schau hier ist ein ganz besonders kuschliges Plätzchen? Na?!”

Es ist ja nun beim Wandern durch die Natur ein gängiges Muster, dass man den ganzen Tag die Augen offenhält und mögliche Lagerplätze für die Nacht sondiert. Leider kommen zwangsläufig nur die Plätze, welche einem nach 6 begegnen in Frage und in der Regel sieht man morgens nach dem Loslaufen immer die schönsten Plätze. In Ungarn war es aber so, dass man sich den ganzen Tag die Finger geleckt hat vor schönen Übernachtungsplätzen und irgendwann wusste, dass sie alle gleich schön sind und man sich daher keinerlei Druck machen müsse. Das nimmt den Druck von den schultern und lässt einen noch mehr Freiheit fühlen als es diese Form der Auszeit he schon vermittelt. Außerdem möchte ich an dieser Stelle noch mal ausdrücklich eine Lanze für die Wiese brechen. Ich werde immer mehr zum bekennenden Wiesenfreund, so sie in den Bergen sind. Reine Waldgebirge begrenzen den Horizont zu sehr und mit diesen steinigen Hochgebirgen hab ich für meinen Lebtag glaub ich abgeschlossen. Daher – es lebe die Bergwiese!
Sieben
wie Berge. Schon ein paar mehr als sieben werden es sein, was man in Ungarn mit guten Gewissen Berg nennen kann. Und das ist ja auch kein Problem. Wie ich erfahren durfte, kann man auch mit denkbar wenig Bergen erheblichen Spaß haben. Dennoch, ob aus montaner Unerfahrenheit oder aus unbändigen Konkurrenzdenken den zahlreichen bergigen Nachbarländern gegenüber, der Ungar versucht auf gar auffällige Weise, so nur irgendwo eine Steigung annähernd zu erahnen ist, diese schonungslos auszunutzen. Da gibt es beim Anstieg keine Motivationskurve, Atemholschleife oder Aussichtsserpentine, nein! Der perfide “Mann der Erde” (ursprüngliche Bedeutung des Wortes Magyar) zeiht jeden Weg der eine Steigung beinhaltet schnurgerade bis zum “Gipfel” durch.

Aufgrund solcher Voraussetzungen, gepaart mit der schon erwähnten Hitze, der Windstille und der daraus resultierenden Insektenfülle, kann man das alpinistische Niveau der ungarischen Mittelgebirge durchaus etwas höher schrauben als es die platte Höhenmeterzahl glauben lassen will. Ich wäre sowieso für die Einrichtung eines “gefühlten” Höhenmeters. Was sind schon 500 Hm bei Mitte 20°, leichtem Wind, besten Markierungen und federnd-duftenden Untergrund in der Mala Fatra gegenüber 150 Hm bei 34°, totaler Windstille, direkter Sonneneinstrahlung, staubigen Feldweg und ununterbrochenen Bremsenangriffen? Da sollte man sich mal zusammensetzen und eine anständige Formel zusammenbasteln!
Acht
wie alle Achtung der ungarischen Eisenbahn. Als ausgesprochener Schienengourmet muss ich an dieser Stelle in aller Form meine Anerkennung aussprechen. In einer Zeit in der aus den niedrigsten Erwägungen die Macht der Schiene immer mehr eingedämmt und begrenzt wird, gibt es in Ungarn noch Hoffnung. Dies nahm anscheinend mit dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich (ihr erinnert euch: “Nehmt ihr eure Horden, wir nehmen unsere”) seinen Anfang. Denn während die Österreicher ihr Ding machten, durften fortan die Ungarn auch recht unbehelligt ihr Ding machen. Und in den ersten Jahren war dies wohl hauptsächlich eine massive Magyarisierung der unterstellten Minderheiten sowie eine druckvolle Ankurbelung des Eisenbahnwesens. Nun, auch wenn ich für meinen Teil ungern gezwungen wäre ungarisch lernen zu müssen, wenn dies mit einer Förderung der Eisenbahn Hand in Hand gehen würde, wäre ich bereit nochmal darüber nachzudenken.

Jedenfalls gefiel mir das gegenwärtig sichtbare Resultat über alle Maßen. Eine bunte Mischung an funktionierenden, gepflegten Zügen, freundlich-kompetente Schaffner, adäquates Preis-Leistungsverhältnis, eine überaus zufriedenstellende Errreichbarkeitskapazität und an sich ein nettes Klima und eine spürbare Akzeptanz bei der Bevölkerung. So muss es sein. In dieser Disziplin kann sich Ungarn also definitiv mit den Besten messen. An sich keine große Überraschung wenn man mal das eigene verstaubte Passivwissen abklopft. Erinnert ihr euch an solche verschmähten Filmklassiker wie “Ich denke oft an Piroschka”? Man hätte es wissen können.
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