Das Lesen von Büchern kann zu den unterschiedlichsten Reaktionen führen. Es kann zu Freude, Trauer, Angst, Belustigung, Frustration und vielem mehr führen. Dabei liest man aus den unterschiedlichsten Motiven heraus, etwa um seinen Horizont zu erweitern, Zeit totzuschlagen, sich zu amüsieren oder um andere mit seiner Lektüre zu beeindrucken. So man sich jedoch irgendwann im Leben dafür entschieden hat, das Lesen von Belletristik als eine annehmbare Beschäftigung anzusehen, wird man in seinem weiteren Zusammenleben mit Büchern die verschiedensten Erfahrungen mit eben jenen machen. Da wären zum Beispiel Bücher der Verschlingungsphase, vornehmlich in der Jugend, wenn man einem Scheunendrescher gleich, aber mit jeder Menge Sinn und Verstand Bücher „frisst“. Hier kann alles dabei sein: großartige Bücher, die man seinen Lebtag nicht mehr vergisst, ja, die das Leben für immer verändern können, aber auch schlichtweg spannende Unterhaltungsliteratur, von der man, so man einmal Blut geleckt hat, einfach alles durchlesen muss. Ganz andere Kandidaten dagegen sind jene, die der „schweren Kost“ zuzurechnen sind, Bücher, die man aus den unterschiedlichsten Gründen gelesen haben sollte, durch die man sich aber nur unter äußerster Überwindung quält. Manchmal wird man für diesen Kampf belohnt, manchmal aber auch nicht, eigentlich in den meisten Fällen nicht. Sehr nahe Verwandte von diesen Büchern, aber dennoch etwas ganz anderes sind die „notwendigen Bücher“, also jene, die nicht so wie die meisten aus der Kategorie der „schweren Kost“ einfach nur Blender sind, nein, in diesen Büchern steckt immer irgendwas, woran man sehr interessiert ist, was man begreifen, sich aneignen möchte. Nur leider, leider hält es der Autor meist für vernachlässigbar, seine kostbaren Erkenntnisse in einer leicht verständlichen oder gar spannenden Form darzureichen. Dann gibt es natürlich noch die ganz normale Durchschnittskost. Gewöhnliche Bücher mit dem ein oder anderen Erkenntniswert, einer netten Idee, einer netten Schreibe, aber nichts besonderes. Nichts woran man sich fünf Jahre später noch erinnern könnte. Selbstverständlich gibt es auch solide, gute Bücher, Werke, die eine gute Idee haben, die einen wie auch immer ansprechen oder berühren, in denen man im Idealfall noch etwas dazulernt und die, meist die absolute Crux, auch noch einen überzeugenden Schluss haben. Viele gibt es nicht von solchen Büchern, aber auch nicht so wenige wie man nach dem x-ten schlechten Buch anzunehmen geneigt ist. Denn natürlich, schlechte Bücher gibt es ohne Ende. Öde, redundante, selbstreferentielle, handwerklich schlechte, unlogische oder schlicht und einfach uninteressante Bücher. Ich denke, jeder Lesende kennt sie und die bittere Klage in der all die verschwendeten Wochen und Monate vergeudeter Lesezeit besungen werden, ist Legion. Doch um derlei Unrat soll es heute nicht gehen, vielmehr möchte ich mich etwas ganz anderem widmen, und zwar jenen unschätzbaren Perlen, die selten, unfassbar selten unter all dem Gelesenen schüchtern hervorlugen.
Und zwar außergewöhnliche Bücher. Diese Art von Büchern kann sich in jedem Genre, in jeder Epoche finden. Es kann zur Hochkultur, zum klassischen Kanon gehören, zum Schund oder zu nicht berücksichtigten Nischenliteratur. Manchmal ist es aber eben, wie auch in diesem Fall ein Buch, welches der schwierig zu bewertenden Gegenwartsliteratur angehört. Schwierig deswegen, weil ich gerne immer mit etwas Abstand auf das Geschehene oder das Zukünftige blicke und Bücher, die das quasi Tagesaktuelle anpacken meist skeptisch beäuge. Sei es weil ich es mir einfach nicht vorstellen kann, dass man ohne eine gewisse Distanz zum Erlebten schon eine Geschichte daraus weben kann, die für die Zukunft Bestand haben sollte oder auch nur weil ich Sorge habe, dass mögliche, kommende Ereignisse, das Niedergeschriebene komplett auf den Kopf stellen könnten. Dementsprechend vorsichtig näherte ich mich dem neuesten Buch von Juli Zeh: „Über Menschen“. Um es vorweg zu nehmen, ich halte sehr viel von Juli Zeh. Ihrem sacht und unaufgeregt daherkommenden Roman „Unter Menschen“ gelang es, mich aus der Kalten zu überrumpeln, so dass mir danach nichts anderes übrig blieb als mein Menschenbild ein wenig neu auszutarieren. Infolgedessen brachte ich diesem Buch den allergrößten Respekt entgegen und hatte eher Sorge, dass mir der Kardinalfehler des Lesenden unterlaufen wäre: das Beste Buch eines Schriftstellers gleich zu Beginn gelesen zu haben. Natürlich kann man das als Luxusproblem abtun, aber schade ist es schon wenn es so sein sollte. Im Falle von „Über Menschen“ trifft diese Vermutung jedoch zu. Keinesfalls kann dieses neueste Werk es mit der epischen Breite der Geschichte und der einzigartigen Schilderung verschiedener Charaktere aufnehmen, wie es in „Unter Leuten“ stattfand. Nein, gar keine Frage, dieses Buch bleibt weiterhin unübertroffen. Und dennoch.
Dennoch gehört dieses Buch zu jenen Büchern, die mich verharren ließen. Mag die Geschichte vielleicht ein wenig zu gewollt sein, die Charaktere zu überspitzt und das Ende, nunja, aber das ist jammern auf hohen Niveau, denn was Juli Zeh neben nur mittelmäßiger Geschichte und halbwegs akzeptablen Figuren gelingt, sind großartige Gedanken. Worte, die in ihrer kristallklaren und prägnanten Schlichtheit in der Lage sind, die verschiedensten schwer zu fassenden Zusammenhänge derart treffend zu formulieren, dass ich voller Neid und Ehrfurcht auf die Knie fallen möchte. Natürlich tue ich das nicht, aber ich lese vorerst auch nicht weiter. Ich verharre für einige Momente in Gedanken. Angesichts der Schlagkraft mancher Beobachtungen verliert sich der Fortgang des Romans im Nebensächlichen und man erfreut sich an dem Hochgefühl etwas ganz Besonderes gefunden zu haben.
Anspruchsdenken. […] Das Gefühl der Leute, ein wachsendes Anrecht zu besitzen. Auf mehr Sicherheit, mehr Komfort, weniger Störungen, weniger Schicksal. Entitlement führt ins Dauerkrisengefühl. Weil man niemals bekommt, was man will. Weil Anspruchsdenken nicht befriedigt werden kann. Auf die Dauerkrise folgt dann der Apokalypse-Verdacht. Das Zeitalter der Wehleidigkeit […] Jeder ist ständig beleidigt, hat Angst und fühlt sich im Recht. Super Mischung.
Kawumm! Und selbst wenn der Rest des Buchs nur aus unerträglichen Schwachsinn bestanden hätte, allein für diese Zeilen hätte sich die Lektüre gelohnt. Genau das habe ich gefühlt seit wer weiß wann, und garantiert nicht erst seit Corona, aber mir war es nie gelungen, dies dermaßen auf den Punkt zu bringen. Dafür zuallererst mal ein tief verbundenes und erleichtertes Dankeschön. Aber natürlich besteht das restliche Buch dann doch nicht aus unerträglichem Schwachsinn, oh nein, weit gefehlt. Mit gewohnter Lässigkeit und einer gehörigen Portion Chuzpe arbeitet sich Frau Zeh mal wieder an ein paar der relevanteren Fragen unserer Zeit ab. Und auch wenn der Roman von der Kritik als so etwas wie einer der ersten Corona-Romane behandelt wurde, erscheint mir dieses Thema hier gar nicht so entscheidend wie man annehmen könnte. Natürlich finden sich auch hierzu klare Worte und interessante Beobachtungen, wie etwa der Zusammenhang zwischen Klimaaktivismus und Corona-Alarmismus.
Der Klimakampf ist mühsam. Niemand kommt so richtig aus dem Quark. Aber jetzt. Was auf einmal alles möglich ist. Was eben noch als ausgeschlossen galt, ist plötzlich kein Problem. Ausbremsen des Raubtierkapitalismus, Radikaleinschränkung der Mobilität. Corona ist anschaulich. Schnell, dramatisch, gut zu bebildern. Messbar in den Folgen. Außerdem scheint dem Virus eine geradezu biblische Zwangsläufigkeit innezuwohnen. Wie lange ist es schon fünf vor zwölf? Irgendwann musste das dicke Ende kommen. Alle wussten das. Alle haben es geahnt. Die abendländische Kultur ist längst zu einer großen Untergangsahnung geworden, falls sie das nicht schon immer war. Und da ist sie nun, die große Seuche, die Strafe für alle Sünden, für Gier und Ausbeutung und den ganzen entfesselten Lebensstil.
Natürlich wird das Thema im Verlauf des Romans noch öfter gestreift und unterschiedlich beurteilt sowie eingeschätzt, letztlich bleibt es aber nicht mehr als ein Rahmen der Handlung. Das Innere der Handlung zieht sich jedoch zurück, bzw. weitet sich aus, und zwar wie so oft in die Peripherie. Die Diskrepanz zwischen Stadt und Land in ihrer brandaktuellen Bedeutung und Wahrnehmung steht somit erneut im Zentrum der Zeh’schen Überlegungen. Und auch wenn hier manch einer ob des Themas möglicherweise mittelbegeistert abwinken möchte, auch ich halte die, sich auf diesen Schnittlinien entfaltenden gesellschaftlichen Probleme für maximal unterschätzt und daher zutiefst interessant.
Als blickte sie auf die geheime Unterseite der Nation. Kaum zu glauben, dass sich ein stinkreiches Land Regionen leistete, in denen es nichts gibt. Keine Ärzte, keine Apotheken, keine Sportvereine, keine Busse, keine Kneipen, keine Kindergärten oder Schulen. Keinen Gemüseladen, keinen Bäcker, keinen Fleischer. Regionen, in denen Rentner nicht von ihrer Rente leben können und junge Frauen Tag und Nacht arbeiten müssen, um ihre Kinder zu versorgen. In solchen Gegenden stellt man dann noch eine Menge Windräder ab, verbietet den Pendlern den Diesel, versteigert die Felder der Bauern meistbietend an Investoren, will Menschen, die sich kein Erdgas leisten können, die Holzöfen wegnehmen und denkt lautstark darüber nach, auch noch Grill und Lagerfeuer zu untersagen, an denen die letzten Reste von Freizeitgestaltung stattfinden. Ansonsten erwartet man, dass alle klaglos funktionieren. Wer aufbegehrt, wird verunglimpft, als dummer Bauer, als Irgendwas-Leugner oder gleich als Demokratiefeind.
Und so schlittern wir hinein in den Strudel der Ambivalenzen, mit dem jeder zumindest vage in Berührung geraten sein sollte, so er nicht vollends und ohne jegliche Selbstzweifel in seiner Großstadtblase aufgegangen ist. Jedem halbwegs offenen Geist sollte klar sein, dass das zunehmende Abdriften der Peripherie von den Zentren weit mehr als ein rein wirtschaftliches Problem darstellt. In diesem Prozess steckt so viel mehr und ist daher auch vergleichsweise schwer zu fassen und zu beschreiben. Wenn sie mit „Unter Leuten“ diese Problematik nur anriss, so geht sie nun gewissermaßen in die Vollen und zieht, um das Maß voll zu machen, als handelnde Hauptfigur gar noch den Dorf-Nazi heran. Und spätestens mit dieser Figur verliert mich Juli Zeh dann wieder ein wenig. Ich erwähnte eingangs, dass ich die Figuren überzeichnet und die Story als lau empfand, und so begriff ich zwar worauf sie mit dieser provozierenden Gestalt hinwollte, und sann noch lang über den lapidaren Gedanken nach, dass „das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig ist, wie man Dinge aus sicherer Distanz betrachtet“. Aber letztlich konnte ich bei der Beschreibung des „Dorf-Nazis“ und seiner Rolle in dieser Geschichte irgendwie das Gefühl nicht abschütteln, dass hier noch etwas unfertig und nicht zu Ende gedacht sei. Und warum auch nicht? Vieles wird weiterhin in der Schwebe bleiben und geduldig auf künftiges Verstehen warten. Vielleicht geht es aber auch viel weniger um verstehen, wie es im Buch irgendwann kurz angedeutet wird, sondern vielmehr darum, das was man nicht begreift auszuhalten.
Fest steht, dass alle Angst haben und dabei meinen, dass nur die eigene Angst die richtige sei. Die einen fürchten sich vor Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe. Die einen vor Pandemien, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur. Dora fürchtet, dass die Demokratie am Kampf der Ängste zerbricht. Und genau wie alle anderen glaubt sie, dass alle anderen verrückt geworden sind.