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- Warum es begann oder wie wir vom Hamsterrad aufs Fahrrad sprangen
- Und es beginnt.
- Von Spreeathen nach Elbflorenz
- Mehr Wasser wagen
- Die „Elbe“ hinauf zur Moldau
- Bonustrack 01 – Die Elbe
- Tanze Lumbago mit mir
- Die unerträgliche Leichtigkeit der Moldau
- Tschechien: Was noch zu sagen bleibt
- Der erste 1000er
- Bonustrack 02 – Die Moldau
- Servus Donau
- Der erste Monat
- Österreich: Was noch zu sagen bleibt
- Die Vierstaatentournee
- Kilometer 2000
- Bonustrack 03 – Die Donau
- Von der Sava nach Sarajevo
- Zwei Monate unterwegs
- Bonustrack 04 – Von Wien nach Bosnien
- Von Sarajevo an die Adria
- Russen, die auf Ziegen starren
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- Ratgeber: Peaks of the Balkans
- 3000 Kilometer
- Bosnien-Herzegowina: Was noch zu sagen bleibt
- Bonustrack 05: Bosnien – Klappe, die Erste
- Montenegro: Was noch zu sagen bleibt
- Vier Monate
- Durch das Land der Skipetaren
- 4000 Kilometer
- Bonustrack 06 – Giro di Salento
- Fünf Monate
- Bonustrack 07 – Von Sarajevo an die Adria
- Albanien: Was noch zu sagen bleibt
- Der Rest des Balkans – von Albanien nach Peloponnes
- 5000 Kilometer
- Die Outdoor-Küche: Ein kulinarischer Streifgang
- Sechs Monate
- Alle Räder stehen still: Winterpause
- Diskret auf Kreta
- Stayin‘ Olive – eine Liebeserklärung
- Sieben Monate
- Bonustrack 08 – Von zweien, die auszogen, das Melken zu lernen
- 6000 Kilometer
- Acht Monate
- Bonustrack 09 – Gefahren in Albanien
- Ohne Fleisch keine Reis‘
- Griechenland: Was noch zu sagen bleibt
- Neun Monate
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- Bonustrack 10 – Reif für die Inseln
- Zypern: Was noch zu sagen bleibt
- Zehn Monate
- 8000 Kilometer
- Radfahren in Zeiten der Seuchenapokalypse – Teil 1
- 9000 Kilometer
- Ein Jahr
- 10000 Kilometer
- 13 Monate
- Bonustrack 12 – Cyprus Hill
- 11111 Kilometer
- Bulgarien: Was noch zu sagen bleibt
- Dankeschön
- Türkei: Was noch zu sagen bleibt
- 14 Monate
- Serbien: Was noch zu sagen bleibt
- Ausrüstungskritik – ein Hui und Pfui des Zubehörs
- Rumänien: Was noch zu sagen bleibt
- Ungarn: Was noch zu sagen bleibt
- Polen: Was noch zu sagen bleibt
- Radfahren in Zeiten der Seuchenapokalypse – Teil 2
- Bonustrack 13 – Immer weiter, ganz nach Kars
- Bonustrack 14 – Türkei 2020, die Rückkehr
Türkei, wir müssen reden. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, sehr viel Zeit, unglaublich viel Zeit. Sage und schreibe 111 Tage! Und daher stehe ich nun vor der unmenschlichen Aufgabe all die angesammelten Eindrücke, Merkwürdig- und Großartigkeiten zusammenzufassen. Eine schier unlösbare Aufgabe. Fangen wir daher am Besten von vorne an.
An einem lauen Oktoberabend saßen wir an einem griechischen Strand, ausgestattet mit griechischen Wein und den neuesten Kriegstreibernachrichten von unserem nächsten potentiellen Gastland, dir, der Türkei, beisammen und berieten vor uns hin. Und so wägten wir ab und grübelten vor uns hin wie wir wohl unsere Reise gestalten könnten, ohne dich, sich aktuell nicht gerade verlockend darstellendes Land zu meiden. Schon zu diesem Zeitpunkt fielen uns nicht viele Alternativen ein. Wir wollten, nach mild verbrachter Winterphase gen Osten. Der ewig lockende Kaukasus und die mittelasiatischen Steppen, Baikonur und noch so viel mehr standen uns im Sinn und du uns dabei zweifellos im Weg. Aber wie so oft auf dieser Reise kam alles ganz anders. Mitte Januar enterten wir von Kos aus den neuen Kontinent und fuhren froher Dinge am Mittelmeer entlang um Zypern auf dem Landweg zu erreichen. Nachdem wir die Insel Aphrodites ausreichend genossen hatten, kehrten wir zurück aufs türkische Mutterland in der irrigen Annahme, nach schneller Durchquerung bald in das Land wo Saperavi und Chacha fließen zu gelangen. Doch weit gefehlt, ein unsichtbarer kleiner Tunichtgut machte uns einen Strich durch die Rechnung und so sahen wir uns flugs eingekesselt und an der Weiterfahrt gehindert. So wurdest du unverhofft zu unserer neuen Heimat und wir hätten es nicht besser treffen können. Nirgends wo wir waren oder wo wir hinwollten, hätten wir mehr Freiheiten in dieser heiklen Zeit gehabt. Da du dich anfangs noch sicher wähntest, begannst du recht spät uns mit Einschränkungen zu gängeln. Erst Ostern erfuhren wir den ersten lockdown, welcher fortan zu unserem Alltag gehören sollte, doch stets und ausschließlich am Wochenende. Weitere Einschränkungen, wie Maskenpflicht in Geschäften oder Temperaturkontrollen an Provinzgrenzen waren verschmerzbar. Viel wichtiger für uns war die der Panik widerständige Herzenswärme der Menschen hier, und damit gleiten wir galant über in die Beschreibung dessen, was ich von den etlichen Tagen in diesem wundervollen Land mitgenommen habe.
Gastfreundschaft
Wie oft berichtete ich in den Beschreibungen unserer Reise von der unfassbaren und bedingungslosen Gastfreundschaft, die uns so oft entgegenschlug, doch was uns in der Türkei diesbezüglich widerfuhr sprengte alles bisher Erlebte. Die offene Selbstverständlichkeit mit der man uns Fremden hier allerorten voller Neugier begegnete, lässt mich, wenn ich mich an all die zahllosen außergewöhnlichen Momente erinnere, immer noch wohlig erschauern. Wir sprechen hier nicht über an sich schon wertvolle Gefälligkeiten wie Einladungen zur Übernachtung, kostenlos angebotenes Essen oder ein ganz allgemein freundliches Auskunftsgebaren, nein, ich muss eindeutig weiter ausholen um nur annähernd das zu beschreiben, was nur ungenügend und dürftig mit dem Begriff Gastfreundschaft erklärt wäre.
Es ist vielleicht ein destruktiv anmutender Gedanke, aber er verhilft die Tragweite der Thematik zu erahnen: Man stelle sich ein türkisch-syrisches Pärchen vor, welches quer durch Europa geradelt ist und nun unverhofft in der besten Corona-Zeit mitten in der deutschen Provinz gestrandet ist. Na, hat jemand ernsthaft Lust auf diese Geschichte? Ich irgendwie nicht. Wie oft fragte ich, mich wenn uns in dieser Zeit, in der es zeitweise verboten war, auf Parkbänken am Strand kurz zu rasten und uns dennoch täglich mittels kleiner Gesten der Menschlichkeit das Gefühl gegeben wurde, hier willkommen zu sein, ob es der klandestine Tee am Wegesrand, das Zustecken von Lebensmitteln oder der augenzwinkernde Rat, wo man unbemerkt zelten könne, war, stets trafen wir auf hilfsbereite und liebenswürdige Menschen, die viel mehr darunter litten, dass wir Probleme haben könnten, als das sie länger als nötig über ihre eigenen Ängste und Sorgen nachgedacht hätten. Ich weiß um viele gute Menschen zwischen Görlitz und Aachen, aber vielleicht bin ich ein wenig zu desillusioniert um mir einen ähnlichen Verlauf für unser hypothetisches türkisch-syrisches Radlerpärchen vorstellen zu können.
Ich erinnere mich an einen unserer ersten Testfahrten durch das frühlingshafte Brandenburg. In einer kleineren Ortschaft hatte ich einen Platten und froh über diese Gelegenheit zum Überprüfen meiner Fertigkeiten stürzte ich mich auf das Maleur. Nach wenigen Handgriffen war das Problem behoben, aber keiner der Einwohner zeigte sich oder gar Interesse an uns. Man hatte vielmehr den Eindruck, dass die Rolladen sich noch ein wenig tiefer senkten und man in den Häusern sorgsam die Stimme senkte um ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, entdeckt zu werden um dann gegebenenfalls helfen zu müssen. Dies ist natürlich gewollt überspitzt und selbstverständlich haben wir auch schon in Brandenburg feine, hilfsbereite Menschen angetroffen. Dennoch kann sich bestimmt jeder Deutschland halbwegs kennende Mensch eine solche Situation vorstellen. Es ist einfach möglich. In der Türkei, das wage ich nach den Monaten auf Rad und am Straßenrand der Gesellschaft verbrachten Zeit zu behaupten, ist solch eine Situation nicht nur unmöglich sondern schlichtweg undenkbar. Denn die Wahrnehmung des Fremden und das Interesse an Reisenden spielt sich eine gänzlich anderen Welt ab als wir sie in jedem der zuvor von uns bereisten Länder Europas erlebt hatten. Wer dieses Blog im letzten Jahr regelmäßig konsultierte, mag an dieser Stelle irritiert aufmerken. Schwärme ich nicht gefühlt in jedem zweiten Artikel von der Offenheit und Gastfreundlichkeit der Jugoslawen, Albaner, Griechen und wem auch immer?! Tatsächlich möchte ich keinesfalls die warmherzige Art vieler Menschen auf dem Balkan schmälern, doch die Türkei spielt in dieser Hinsicht in einer anderen Liga.
Doch der Kern des Pudels, eine immer wiederkehrende Frage während und nach der Reise ist nun: Warum ist das so? Ich gestehe offen, auch wenn ich lange gegrübelt habe, natürlich kann ich hier auch nur mit Indizien, Vermutungen und Thesen jonglieren. Doch angesichts eines derart schwammigen Sachverhalts sollte auch keiner ernsthaft eine hieb- und stichfeste Analyse erwarten. Und wenn wir schon bei schwammigen Sachverhalten sind, beginnen wir doch am besten mit der schwammigsten These: Umso mehr Wohlstand desto mehr Angst. Menschen, die weniger als kostbar eingeschätzte materielle Güter angesammelt haben, begegnen dem Fremden eher mit ernstgemeinter Neugier als mit der Sorge, dass jene unbekannte Faktoren eine Gefahr für ihre behüteten Schätze darstellen könnten. Soweit so pauschal, denn natürlich gibt es auch zahlreiche begüterte Menschen, die unbekümmert und ohne Hintergedanken alles mit dir teilen werden. Genauso wie es eben auch arme Menschen gibt, die alles andere als gastfreundlich sind. Und dennoch… Es fällt einem umso mehr auf wenn man nach so langer Zeit dann wieder an all den geschniegelten Vorgärten Ostmitteleuropas vorbeifährt, all diesen scheintoten Dorfgemeinschaften mit ihren blitzenden Klinkerprachtbauten, Carports und schmiedeeisernen Zäunen. All dieser Wohlstand, der still in der Gegend steht und mit den Besitzern schweigt, die sicher eingesperrt vor jeglichen widrigen Einflüssen ihr Eigentum genießen. Dies steht im düsteren Kontrast zu der fröhlichen, offenen Atmosphäre der meisten Dörfer des Balkans und Anatoliens. Irgendwas könnte da also durchaus dran sein.
Ein weiterer Punkt, den ich hier als grundlegend ausmache, ist der Islam. Nein, keine Sorge, ich bleibe ein entschiedener Gegner jeglicher Religion und bin auch weiterhin der Meinung, dass die Nachteile des Islams bei weitem überwiegen. Doch ein unvoreingenommener Geist soll sich nicht dem versperren, was ihm eigentlich nicht recht behagen will. Nach meinen Beobachtungen hat der Islam schon aus rein praktischen Aspekten heraus eine fremdenfreundliche Ausrichtung. Denn die Moschee stellt zumindest in ländlichen Regionen tatsächlich ein offenes Asyl für Reisende und Fremde dar und ist in dieser Hinsicht eben nicht nur ein fades Lippenbekenntnis wie ihre christlichen Pendants. Moscheen eroberten sich rasch einen festen Rang in unserer Reiseplanung. Nicht allein für Übernachtungen wurden sie eine feste Institution, vielmehr stellten sie in diesem staubigen, heißen Land einen sicheren Hafen für jegliche sanitäre und hygienischen Bedürfnisse sowie den Garant auf frisches Trinkwasser dar. Diese realen, physischen Merkmale einer Willkommenskultur sind das eine, ich bin aber eben auch der festen Überzeugung, dass diese Religion es auch über die Zeit geschafft hat ihre Spuren in der Kultur und Psyche der Menschen zu hinterlassen, so dass es zu einem unverrückbaren Teil ihrer selbst wird, jeden Reisenden mit Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit zu überschütten.
Aber natürlich kann es auch ganz allgemein an dieser mediterranen Stimmung liegen, welche bisweilen in der Lage ist jene fröhliche Leichtigkeit des Daseins und eine lässige Lebensauffassung zu gebären, die einfach im direkten Gegensatz zu bornierter Engstirnigkeit und verbiesterten Besitzstandsdenken steht. Und wahrscheinlich ist da noch einiges mehr, was ich übersehen oder nicht verstanden habe. Fest steht nur eines, so skeptisch ich bis auf weiteres dem türkischen Staat gegenüberstehe, die Menschen in diesem Land sind etwas ganz besonderes und sie werden für immer einen extrakuscheligen Raum in meinen Erinnerungen ihr eigen nennen dürfen. Fortan werde ich besorgniserregende Nachrichten aus der Türkei nicht mehr wie zuvor mit jener latenten Antipathie dem türkischen Großmachtstreben gegenüber kanalisieren können. In Zukunft gelten dann meine Gedanken all den weltoffenen, friedliebenden und herzlichen Menschen, die so gar nicht zu dem säbelrasselnden Gebaren des Verrückten vom Bosporus passen.
Fremdsprachlosigeit
Es soll her nun keineswegs eine fade Klage über mangelnde Fremdesprachenkenntnis im Ausland folgen. Nein, ich möchte eher mein hyperventilierendes Entsetzen über die totale Unfähigkeit, vieler, insbesondere auch junger Türken zum Ausdruck bringen, sich in einer anderen Sprache außer Türkisch, zu verständigen. Als Vielreisender betrachte ich Englisch schon länger als allgemeine Verkehrssprache und erwarte nicht Shakespeare wenn ich in ein Hotel einchecken will. Natürlich habe ich auch Verständnis wenn die landestypische Zweitsprache eben nicht Englisch ist, aber irgendwie erwarte ich nach etlichen Reisen mittlerweile in einem Land, dessen Landessprache nicht Englisch ist, dass man in eben dieser Sprache ein paar Brocken beherrscht. Zumindest wenn man in den Branchen Tourismus oder Gastronomie arbeitet, bzw. jung ist oder einen akademischen Abschluss hat. Für die Türkei ziehen all diese Register nicht. Und dies ließ mich komplett ratlos zurück. In einem Land, dass zu großen Teil vom Tourismus lebt und von denen einige Millionen Menschen seit einigen Jahrzehnten im Ausland arbeiten oder gearbeitet haben, steht man in der Regel vor einer Traube von Menschen, die allesamt hektisch auf ihre mobilen Endgeräte tippen um einem mittels google translate die simpelsten Wortgruppen zu übersetzen und freudig entgegenzuhalten.
Ein paar Beispiele gefällig? Als wir unseren langen Türkeitrip Mitte Januar in Bodrum begannen, wollten wir ebendort in einem Hotel nächtigen. In der Rezeption saßen zwei Jungs im Alter zwischen 15 bis 16. Auf unsere einfachen Fragen reagierten sie komplett verständnislos. Weder Zahlen oder andere Hotelerie-Standardvokabeln waren vorhanden. Per google translate ermittelten wir mühsam alle relevanten Informationen. Und dies in Bodrum, eine Stadt, die als Hochburg des britischen Tourismus gilt.
Oder jene Situation, schon mitten in der Corona-Ära: Als wir am Stadtrand von Göreme zelteten, kamen am nächsten morgen sämtliche Institutionen auf Stipvisite vorbei: Der stellvertretende Chefarzt des hiesigen Hospitals mit zwei, drei Mitarbeitern, ein Auto voll mit sich wichtig gerierenden Polizisten und eine Ladung Ordungsämtler. Allein der jüngste, und zweifellos der am tiefsten in der Hackordnung befindliche Polizist sprach ein annehmbares Englisch. Ich wiederhole: von einem guten Dutzend studierter und/oder für den Staatsdienst ausgebildeter Würdenträger konnte nur eine Person sich in einer anderen Sprache als Türkisch unterhalten.
Natürlich trafen wir auch ab und an auf Türken mit Fremdsprachkenntnissen, doch sie blieben selten und waren definitiv die Ausnahme. Auch speziell der Typus des, den Lebensabend genießenden „Gastarbeiters“ begegnete uns in unseren türkischen Monaten des öfteren. Außerdem muss unbedingt erwähnt werden, dass sich die Lage im europäischen Teil der Türkei spürbar wandelte. Hier hatte die Verkehrssprache Englisch eindeutig einen festeren Stand und war definitiv keine Ausnahmeerscheinung.
Wir haben natürlich oft über die Ursache des Problems nachgedacht und in den Momenten, als wir auf Türken trafen, mit denen wir uns unterhalten konnten, war dieses Phänomen stets ein Thema. So richtig dahinter kamen wir schlussendlich jedoch nicht. Es wurden einige Argumente genannt, die mit Sicherheit Teil des Problems waren, die aber irgendwie nur eine Teilmenge darstellten und keinesfalls den Tatbestand in seinem schockierenden Ausmaß erklären konnte. So wurde die mangelhafte Ausbildung der Lehrer genannt, die oftmals ohne jegliche praktische Erfahrung vonstatten ging. Ein sehr theoretisches Sprachstudium durch Dozenten, die jene Sprache meistens ebenso erlernt hatten. Dieses Argument wurde oft auch in Zusammenhang mit der geringen Bedeutung, die Fremdsprachen vom türkischen Bildungssystem, respektive also vom türkischen Staat beigemessen wird. Somit führt also politisches Kalkül dazu, dass Fremdsprachenunterricht lieblos und uninspiriert präsentiert wird und dementsprechend wenig bei den Schülern hängenbleibt. Aber so wenig? Das kann zweifellos zu gewissen Anteilen ursächlich für die Misslage sein, andererseits bin ich durch Länder mit wirklich desaströsen Bildungssystemen gereist, und dennoch vermochten es zumindest die Kinder und Jugendlichen dank Internet und Popkultur sich ein paar Phrasen und Vokabeln draufzuschaffen. Nein, irgendwie überzeugt das alles nicht sonderlich. Auch andere aufgeführte Argumente, wie dass Türken sich schämen würden, in einer anderer Sprache zu sprechen, oder, dass man den türkischen Sprachraum für so groß empfände, dass eine Zweitsprache als unnütz empfunden würde, überzeugten mich nur bedingt. Denn allein die jährliche Touristenschwemme wie auch der Status des Gastarbeiters, stehen in meinen Augen hierzu im Widerspruch. Ihr seht mich also nachhaltig verwirrt und ich gestehe offen, dass ich dieses rätselhafte Phänomen der türkischen Fremdsprachlosigkeit nicht restlos klären konnte.
Die Gretchenfrage:
Von außen und ohne allzu viel Interesse betrachtet, erweckt die Türkei seit einigen Jahren einen besorgniserregenden Eindruck. Eines der wenigen islamischen Länder, die es mit dem Laizismus ernst meinten, schien arg unter Beschuss und der religiöse backlash schien unvermeidlich. Aus der Nähe betrachtet, fand sich anfangs nur wenig um diese Befürchtung zu bestätigen. Sicher, die pompösen Moscheeneubauten, welche selbst das winzigste Kuhdorf schier zu erdrücken schienen, sprachen zwar eine eindeutige Sprache, die wenigen Menschen, die sich dann aber in diesen riesigen Tempeln verloren, ließen auch andere Schlüsse zu. Wir kamen mit vielen Menschen in der Türkei in Kontakt. Von den westlichen und südlichen Touristenhochburgen, über die zentralanatolischen Hochebene, dem schneezerzausten Nirgendwo Ostanatoliens, sowie der immergrünen Schwarzmeerküste und schließlich Istanbul nebst Thrakien, dem europäischen Teil der Türkei – doch keiner dieser gastfreundlichen und liebenswürdigen Menschen erweckte den Eindruck übermäßig religiös zu sein. Sicher, auf dem Land gehörten die antireligiösen statements, die wir von Menschen in der Stadt bisweilen zu hören bekamen, nicht zum Standardrepertoire. Auf den Dörfern ging es naturgemäß traditioneller und gemächlicher zu, doch außer den kulturellen Auswirkungen des Islam (regelmäßiges Waschen von Füßen, kein Alkohol und Schweinefleisch, etc.), erschienen uns die Menschen hier eher mäßig an eifriger Religionsausübung interessiert.
Dieser Eindruck darf nun nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Türkei seit geraumer Zeit fundamentalistische Kräfte beharrlich daran arbeiten, das laizistische Fundament des jungen Staats zu unterminieren. Und auch wenn viele der Türken, welche uns im Brustton der Überzeugung versicherten, dass sie sich daran die Zähne ausbeißen würden, denn dieser Staat sei ja qua Verfassung und die allseits wachsame Armee abgesichert gegen einen religiösen backlash, so beruhigte mich das nur geringfügig, da mir in dieser Hinsicht die Geschichte ausreichend warnende Beispiele bereit hielt, in der die Armee die Seiten wechselt und eine Verfassung dann doch nur ein Stück Papier ist. Doch in dieser Hinsicht sind sie allesamt sehr von der Besonderheit und Einzigartigkeit ihres Landes überzeugt. Oft genug erlebte ich die erstaunliche Metamorphose von Gesprächspartnern und Gastgebern, die sich zu Beginn als antireligiös, demokratisch und internationalistisch gerierten, im Laufe des Abends aber immer stärker herauskehrten wie unvergleichlich und herausragend in jeder Beziehung und jedem Moment der Menschheitsgeschichte die Türken seien.
Diese Sichtweise, die hier zum Vorschein kommt, kann für den politisch und historisch interessierten Mitteleuropäer bisweilen sehr bizarr daherkommen. Ursächlich hierfür ist zu großen Teilen mit Sicherheit der noch junge Staat, den der bis heute noch ikonenhaft präsente Kemal Atatürk (der Vater aller Türken) nach dem Ersten Weltkrieg erschuf. Die Veränderungen, die er dem Rumpfstaat des Osmanischen Reichs zumutete waren enorm und führten beispielsweise dazu, dass er mit der Durchsetzung der Kunstsprache Türkisch Generationen von Menschen von der Sprache ihrer Ahnen komplett abkoppelte. Kurz gesagt, Atatürk leitete hier nichts Geringeres als eine Revolution, aber eben eine Revolution von oben. Und so befinden wir uns nun hier in einem sehr schwierig zu vereinenden Universum: einerseits der moderne, laizistische und westlich orientierte Ansatz, der die unverhandelbare Grundlage der türkischen Gegenwart und Zukunft zu sein hat, und andererseits das Erbe des Osmanischen Reichs, welches eben nicht einer Renovierung gleich mit einem Tapetenwechsel verschwunden ist, sondern an allen Ecken und Ritzen durchzusickern droht. Ach, es ist alles schon eine ganz schön verwickelte Geschichte und ich bin wahrscheinlich weit entfernt es nur ansatzweise verstanden zu haben!
Draußen unterwegs
Kommen wir daher zu einem auf den ersten Blick einfacheren Kapitel: Ein paar Beobachtungen zu dem unerschöpflichen Thema „Mit dem Rad unter freiem Himmel kreuz und quer durch die Türkei“. Wie eingangs schon klar geworden sein sollte, sind die Menschen hierzulande nicht nur das geringste Problem sondern vielleicht sogar eines der killer features, die die Türkei zu bieten hat. Wenn, ja wenn sie nur nicht so eingefleischte Autonarren wären. In den meisten Ländern, die wir durchradelten, steht die, jedes normale Maß übersteigende Masse an Autos, die einem überall entgegenschwappt, stets auf den vorderen Plätzen der unangenehmen Dinge. Doch in der Türkei wurde all das nochmal mit Vollgas überboten. Hierzulande wird das Auto nicht allein als Fortbewegungsmittel begriffen, sondern es ist ähnlich dem us-amerikanischen lifestyle eine zweite Haut, eine angebetete Geliebte und sorgende Mutter. Zweifellos, die Vorstellung, etliche Dinge ohne Auto zu bewerkstelligen, ist auch in unseren Breiten gewaltig verkümmert, doch die Fokusierung auf Automobilität zwischen Bosporus und Ararat kann nur als manisch bezeichnet werden und hat mich anfangs belustigt, bis mir das Lachen immer öfter im Hals stecken geblieben ist. Ich verzichte hier auf Beispiele, weil jeder der dem Kult des Autos noch nicht gänzlich verfallen ist, genau weiß was ich meine, und es nicht meine Art ist lästernd und meckernd über diese guten Menschen herzuziehen. Nur so viel, es hat mich streckenweise sehr traurig gemacht.
Genauso wie mich eine andere Schattenseite nahezu jeden der 111 Tage hier ratlos machte und schlussendlich einfach nur noch frustrierte. Ich spreche von dem Umgang mit Müll sowie dem Umweltschutz oder Umweltbewusstsein im Allgemeinen. Auch hier natürlich wieder der Einschub, dies ist keineswegs ein türkisches Phänomen. Spätestens nachdem wir Österreich verlassen hatten, gab es ohne Übertreibung keine 50m Straßenrand ohne die vermüllten Anzeichen derjenigen, die sich die Erde Untertan gemacht hatten. Und so fragten wir uns immer wieder, wie Menschen nur eine solche Achtlosigkeit an den Tag legen können? Speziell in Ländern deren wertvollstes Kapital ihre wunderschöne Natur ist. Doch in der Türkei, deren Menschen soviel Wert auf ihre äußere Erscheinung legten, deren Häuser, Moscheen und Innenstädte peinlich sauber gehalten werden, gerade hier sticht es dann eben noch mehr ins Auge wenn man beispielsweise gerade am Strand einen Sonnenuntergang genießt, in diesem Augenblick ein Auto neben einen auf den Strand fährt (-> Automanie, s.o.) der Fahrer nicht aussteigt, sondern in der Kabine versonnen sein Bier trinkt, um, nachdem dieses geleert ist, gelassen das Autofenster runterzukurbeln und als wäre es das Normalste der Welt, die Dose raus auf den Strand wirft. Situationen, vergleichbar mit dieser, die ein weitverbreitetes Bewusstsein aufzeigen, dass man die Natur bedenkenlos ausbeuten und sich nicht weiter um sie kümmern muss, haben wir ununterbrochen erlebt und die führte dann gelegentlich zu einer gewaltigen Portion Misanthropie in unserer kleinen Auszeit.
Fazit
Hachherrjeh, so lange wie ich an diesen Zeilen gewürgt habe, ist es nun wirklich zu viel verlangt, dass hier dann ganz überraschend ein glasklares und erhellendes Resümee aufploppen könnte. Belassen wir es dabei: Weiterhin bin ich kein Freund der Türkei, aber ein glühender Freund der Menschen die hier leben. Vielleicht lag es an unserer Art zu reisen, dass wir nie in Kontakt zu dem national-konservativen, fundamentalistischen Teil der Bevölkerung bekamen, die für die Wahlerfolge des Ayransultans verantwortlich zeichnen, doch wir trafen ausnahmslos Menschen, die so sie Teil der Macht wären, ohne Zweifel für eine weltoffenere und friedlichere Türkei sorgen würden. Daneben kann dieses Land natürlich noch in fast allen Kategorien aus dem vollen schöpfen: jede Menge majestätischer Berge, immer noch genügend idyllische Küsten, üppige Natur und Geschichte bis zum Abwinken. Das alles bekommt man aktuell äußerst preisgünstig so man die Finger vom Alkohol lässt. Nein, schlussendlich habe ich zu danken für ein perfektes Asyl in turbulenter Zeit und eines ist sicher, wir sehen uns wieder, denn es sind noch viele Fragen offen.