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Als ich mich Anfang August an das letzte Buch unserer Reise machte, ahnte ich nicht worauf ich mich einließ. Polen war an der Reihe und von Olga Tokarczuk, der aktuellen Literaturnobelpreisträgerin, wollte ich schon lange etwas lesen. Dementsprechend wahllos griff ich ins digitale Regal und schlug die erste Seite der „Jakobsbücher“ auf. 1184 Seiten! Kurz zögerte ich, doch dann warf ich mich hinein ins Vergnügen und sollte für mehrere Monate in diesem Strudel gefangen bleiben. Und auch wenn ich Autoren, die Bücher in derart einschüchternden Ausmaß abliefern, gemeinhin skeptisch gegenüberstehe, da in meinen Augen die wahre schöpferische Kraft jene ist, das Erzählerische präzise und stilvoll zu verdichten anstatt sich hinter ausufernden Beschreibungen zu verstecken. Doch in diesem Falle muss ich eine Ausnahme machen. Speziell wenn man sich Zeit nimmt und das Buch nicht in einem Ruck liest, gelingt es Tokarczuk mit ihrem fabulierfreudigen Stil, Einblicke in die polnische wie polnisch-jüdische Geschichte zu vermitteln, die so einzig- wie großartig sind. Doch es ist nicht allein die Geschichte des Jakob Frank, eine schillernde und schwer zu fassende Gestalt, die im 17. Jahrhundert halb Osteuropa gehörig durcheinanderwirbelte, nein, es liest sich streckenweise wie eine Allegorie unserer Reise und war auch aus diesem Grund eine grandiose Wahl. Denn schließlich stammt der Protagonist aus den milden Gefilden Kleinasiens und spricht mir aus der Seele wenn Tokarczuk ihn folgendes fühlen lässt:
Überdrüssig ist er des podolischen Drecks, der dörflichen Enge, Missgunst, Grobheit; er sehnt sich nach den Feigenbäumen und dem Duft von kaffa.
Doch es kommt noch besser. Schließlich behandelt der Roman die Zeit der letzten Zuckungen des polnischen Königreichs, und in eben dieser Epoche gab es tatsächlich eine Landgrenze zwischen dem Osmanischen Reich und Polen. So absurd dies heute erscheinen mag, was musste ich kichern als ich, eingedenk unserer Grenzerfahrungen, folgende Zeilen las.
Auf der türkischen Seite des Dorfes entsteht ein Menschenauflauf, die Wachen lassen niemanden nach Polen. Angeblich grassiert dort eine Seuche.
Ja, ich kann es nicht anders ausdrücken: Selten hat ein Buch sich ein Buch so nahtlos in meine aktuelle Lebenssituation eingefügt. Es ist manchmal schon merkwürdig mit Büchern. Obwohl sich der Inhalt der Zeilen um keinen Deut ändert, kann die Leseerfahrung nach ein paar Jahren eine gänzlich andere sein. Jedem leidenschaftlich Lesenden sollte dieses faszinierende Erlebnis schon widerfahren sein. Es sind dies erhellende und aufrüttelnde Momente der Selbsterkenntnis. Dieses Buch könnte mich in einem anderen Moment vielleicht völlig unbeeindruckt gelassen haben und wahrscheinlich hätte ich dann angesichts der erdrückenden Länge schnell die Geduld verloren. Doch in diesem seltenen Lebensmoment traf dieses Buch genau ins Schwarze. Einerseits in Hinsicht der Erinnerung an die vergangenen Abenteuer wie beispielsweise die Wahrnehmung Polens nach langer Zeit der Polenabstinenz.
Nach seiner Rückkehr nach Polen scheint Moliwda alles fremd und wunderlich. So viele Jahre war er nicht hier, und sein Gedächtnis ist kurz oder unzulänglich – wie auch immer, alles hat er anders in Erinnerung behalten. Vor allem der trübe Eindruck der Landschaft und der weite Horizont erstaunen ihn. Und dann das Licht – sanfter und weicher als im Süden. Das traurige polnische Licht. Das den Menschen in Melancholie versetzt.
Andererseits erhalte ich hier aber unversehens auch noch einen Schubs für mein gegenwärtiges Schaffen:
Genug bietet die Welt meinem bescheidenen Verstand,
Der nicht die Gestirne am Himmel messen kann,
Zu zählen aber Eiche, Föhre, Tann –
In solcher Arithmetik ist er wohl gewandt.
Dementsprechend schwierig fällt mir nun eine Empfehlung für den betreffenden Wälzer. Unzweifelhaft handelt es sich hier um ein exzellentes Stück Weltliteratur. Wer historische Romane favorisiert, sich für die verwickelte Geschichte Polens interessiert und mit viel Geduld und Zeit ausgestattet ist, dem rate ich inständig, es mit diesem Buch zu versuchen. Denn gerade in Zeiten wie diesen, in denen die national-konservative Propagandamaschine unter anderem die polnisch-litauische Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts als „goldenes Zeitalter“ verklärt, ist es wichtiger denn je aufzuzeigen, mit welcher Unmenschlichkeit Adel und Klerus in dieser Epoche agierten. Außerdem zeigt der Roman eindrucksvoll, dass Juden immer zu Polen gehört haben, egal welche Sprache sie gesprochen haben. Doch der bedeutsamste und zumindest mir wichtigste Punkt an diesem Buch ist das unablässig durchschimmernde Fremd- und Befremdetsein, welches hier hervorgehoben und gepriesen wird. Das tat einfach nur gut. Danke dafür und damit schließe ich mit meinem Segen – diese Frau hat den Literaturnobelpreis wirklich verdient!