- Pro Land ein Buch: Tycho Brahes Weg zu Gott
- Pro Land ein Buch: Die Welt von gestern
- Pro Land ein Buch: Tito – Die Biografie
- Pro Land ein Buch: Die Verschwörung der Fahrradfahrer
- Pro Land ein Buch: Der Derwisch und der Tod
- Pro Land ein Buch: Wolga, Wolga
- Pro Land ein Buch: Die Brücke über die Drina und HERKUNFT
- Pro Land ein Buch: Die Pyramide
- Pro Land ein Buch: Athen, Paradiesstraße
- Pro Land ein Buch: Schnee
- Pro Land ein Buch: Macht und Widerstand
- Pro Land ein Buch: Das Spiel der hundert Blätter
- Pro Land ein Buch: Die Jakobsbücher
- Pro Land ein Buch: Jaroslav Rudiš
- Pro Land ein Buch: György Dalos
- Pro Land ein Buch: Drago Jančar
- Pro Land ein Buch: Auf der Suche nach Italien
- Pro Land ein Buch: Italienische Krimis
- Pro Land ein Buch: Sachbücher über Italien
- Pro Land ein Buch: Sizilien
- Das Jahr 2022 in Büchern
- Pro Land ein Buch: Die Großmächtigen
- Pro Land ein Buch: Der Weg des Helden
- Pro Land ein (paar) Bücher: Frankreich (Kinder- und Jugendbücher)
- Pro Land ein (paar) Bücher: Frankreich (Sachbücher)
- Pro Land ein (paar) Bücher: Belletristik, Klassiker – Erwachsenenliteratur
- Pro Land ein Buch: Leeres Spanien (Sachbuch)
- Pro Land ein Buch: Don Quijote
- Das Jahr 2023 in Büchern
- Pro Land ein Buch: Die portugiesische Reise
- Die Sachbuch-Revue: Arabien und Islam
- Pro Land ein Buch: Leïla Slimani und Mohammed Choukri
- Pro Land ein Buch: Reise ohne Wiederkehr
Eine Ewigkeit scheint es mittlerweile her zu sein, als ich mich nach den ersten Tagen Türkei vorsichtig regte und mich auf allen Kanälen nach einem lesenswerten Buch eines türkischen Autors erkundigte. Orhan Parmuks „Schnee“ wurde hierbei von verschiedenen Menschen genannt und so entschied ich mich ohne lange mit der Wimper zu zucken dafür. Eine weise Entscheidung denn dieses Buch sollte passen wie lange kein Buch mehr gepasst hat. Als wir uns noch an der sonnigen Mittelmeerküste rumtrieben, erschien mir ein Roman, welcher in einem eingeschneiten Kaff, bzw. Kars im letzten Winkel Ostanatoliens spielte, reichlich bizarr. Doch schon bald spielte Kars in unseren Reiseplänen eine herausragende Rolle, denn dank Zuganbindung war es unsere Hoffnung, hierher zu rauschen und dann doch noch im letzten Augenblick, bevor die Grenzen geschlossen würden, hineinzuschlüpfen in das nur 60km entfernte Georgien.
Doch dieser geniale Plan ging leider nicht auf und so saßen wir hier fest,genauso wie der Protagonist des Romans, welcher allerdings nicht mehr aus Kars rauskam, weil die Straßen zugeschneit waren. Man denke sich in mich hinein, als ich kurz von den Seiten aufblickte und eines Abends sanft Schneeflocken vom Himmel taumeln sah. Und nicht nur eine, Mitte März, war es auf einmal Winter und so lehnte ich mich zurück, nahm die Dinge hin, die ich nicht ändern konnte und vertiefte mich vollends in diesen sich immer mehr in mir ausbreitenden Roman.
Pamuk gelingt es hier eine Kleinstadtposse zu entfalten, die gleichermaßen voller Witz wie mit blutiger Verzweiflung die himmelschreiende Schizophrenie der türkischen Identität sowie der ganzen dazugehörigen, irritierenden Mischpoke ausbreitet. Großartig gezeichnete Charaktere, eindrucksvolle Stimmungsbilder der „Grenzstadt“ und ein packender Spannungsbogen machen dieses Buch zu einem wahren Erlebnis.
„Alle, die diese Stadt in ein bescheidenes Zentrum der Zivilisation verwandelt hatten, diese Armenier, Russen, Osmanen und frührepublikanische Türken, sie waren gegangen, und es schien, als seien die Straßen so leer,… https://t.co/9VV1OlZcly
— sasza (@muenzenberg_) March 19, 2020
Doch dieses Buch muss mehr Prüfungen als andere über sich ergehen lassen. Schließlich genoss ich es nicht irgendwo sondern mitten drin im Ort der Handlung und dabei fiel mir einiges auf. Das Kars, welches der Autor beschreibt, ist entweder mittels künstlerischer Freiheit stark provinzialisiert wurden oder in den letzten 30 Jahren ist einiges geschehen in Kars. Im Roman gibt es in ganz Kars nur eine Ampel, Pferdewagen gehören zum normalen Straßenbild, ständig fällt der Strom aus und ganz allgemein wird der Eindruck einer hinterwäldlerischen Kleinstadt erzeugt. Nun ist Kars natürlich nicht Istanbul oder Erzurum, doch es ist eine gewöhnliche Kleinstadt mit dem üblichen Klimbim ohne den sämtliche urbanen Zusammenhänge ab einer gewissen Größe aktuell ausgestattet sind. Wahrscheinlich ist das fiktive Kars entstanden durch eine Mischung aus Wollen und Werden. Zwei andere Kleinigkeiten stellte ich außerdem zwischen den beiden Städten fest: Zum einen war der schier ununterbrochene Rakigenuss zu jeder Gelegenheit und an fast jedem Ort in meinem Kars undenkbar. Während einer Woche intensiver Pirschgänge ermittelte ich ganze sechs Verkaufsstellen für Alkohol und zwei Etablissements mit Ausschank. Aber diese Entwicklung stellt keine große Besonderheit dar, sondern ist außerhalb der Tourismusgebiete zur trockenen Realität geworden. Dem Ayransultan sei Dank. Die andere Sache war die mit den Hunden. Ständig liefen in Pamuks Kars schwarze Hunde durchs Bild. Nun, Hunde hat es hier wirklich. Riesige, zottige und gutmütige Gesellen hängen an allen relevanten Punkten der Stadt in bisweilen stattlichen Rudeln ab. Doch sie sind samt und sonders weiß, schmutzig, aber auf jeden Fall mit einem hellen Fellkleid ausgestattet. Schwarze Hunde bringen hierzulande nämlich Unglück und können daher selten auf eine unbehelligte Streunerkarriere hoffen. Diese offensichtliche Ungereimtheit erschließt sich mir nicht ganz, aber sie tut der Größe des Gesamtwerks keinen Abbruch.
Lange lief ich achtlos an den, in Bücherläden stets präsenten Bänden des Literaturnobelpreisträgers vorbei. Schlicht kein Interesse oder ein interessanteres Buch um die Ecke waren die Ursache. Doch nach dieser Lektüre steigt Pamuk in meinem Ansehen definitiv und es ist nicht auszuschließen, dass ich gelegentlich nochmal zu einem seiner Bücher greifen werde.