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- 852 Tage – Doppelt hält besser
Eigentlich hatten wir ganz gipfelstürmerisch auf dem Kamm zwischen Frankreich und Spanien nächtigen wollen, doch die eisigen Winde, welche über die Pyrenäen pfiffen, hielten uns ganz schnell davon ab. So fuhren wir ein paar Kilometer hinab ins Tal und erblickten schon von weitem ein majestätisch das Bergtal dominierendes Kloster. Doch als wir anhielten, gellten uns breite texanische Laute, gepaart mit exaltierten Gekicher entgegen. Als wir an dem Kloster vorbeifuhren, wurde es nicht besser – ein Massenauflauf an Menschen, gekleidet im neuesten Chic der Outdoormode, in aufgekratzter Stimmung pulsierte an uns vorüber. Ohne große Diskussion fuhren wir kommentarlos weiter. Es konnte nur besser, bzw. stiller werden. Und tatsächlich fanden wir zwei Kilometer weiter einen dunkles Picknickplätzchen, leider direkt gegenüber der Kaserne, der mir, von früheren Besuchen, in denkbar schlechter Erinnerung gebliebenen Guardia Civil. Aber was soll’s, leise bauten wir unser Zelt auf und schlüpften hinein. Ich rechnete fest damit, im Morgengrauen von den postfaschistischen Ordnungskräften für dieses Vergehen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch das Erwachen sollte noch weit vor dem Morgengrauen kommen. Überraschenderweise war die Ursache aber nicht jene mir verhasste Schutztruppe, nein, es waren Wanderer, hierzulande auch Pilger genannt, die in tiefster Dunkelheit mit netzhautverbrutzelnden Stirnlampen und laut palavernd unablässig an unserem Zelt vorbeistolperten. Und dieser Strom wollte und wollte nicht aufhören. Es wurde langsam hell, wir standen auf, tranken Tee, frühstückten und beobachteten dabei verdutzt die nicht enden wollenden Menschengruppen, die in einem fort an uns vorbeiflanierten. Bisweilen wurde uns ein gut gelauntes „Buon Camino“ zugerufen. Wir erwiederten den Gruß zögerlich – keine Frage, wir waren angekommen auf dem wohl populärsten Wanderweg der Welt.
Waren wir anfangs noch irritiert so gehörte diese nächtliche Ruhestörung bald zu unseren liebgewonnenen Reiseroutinen. Das metallische Klickern der Wanderstöcke löste in meinem, noch verschlafenen Bewusstseinszustand Assoziationen aus, die an, über den Boden schleifende Ketten von Gefangenen erinnerten. Und wenn ich mich dann gemächlich aus dem Zelt schälte, mir einen Tee machte und dabei die vorbeihumpelnden und gebeugten Gestalten an mir vorbeidefilieren ließ, dann verstärkte sich dieser bizarre Eindruck eines mutlosen Trupps an Galeerensklaven, welche durch diese karge, lebensfeindliche Gegend getrieben wurden. Ich nannte es Jakobs-TV und freute mich jeden Morgen mehr, was dieses Mal ins Programm gespült werden würde.
Ich möchte keinesfalls falsch verstanden werden: Menschen, die wandern, haben in meinen Augen erstmal eine prinzipiell gute Entscheidung getroffen. Besser als die knapp bemessene Freizeit zu nutzen um mit Auto, Motorboot oder Schlimmeren Lärm und Kleingeistigkeit zu verbreiten. Sich für einige Wochen auf einen Wanderweg zu begeben und diesen aus eigener Kraft zu bewältigen, ist nicht nur eine sportliche Leistung, es ist auch stets eine mentale Überraschungsparty, welche die unterschiedlichsten Auswirkungen in dem Wandernden auslösen kann. Soweit, so buen camino. Und dennoch. Über weite Strecken begegnete ich diesem Weg, bzw. den Menschen, die ihn in unvorstellbaren Massen bevölkerten, mit ausgesprochen ambivalenten Gefühlen.
Da wäre einerseits die Skepsis dem ganzen Konzept der Pilgerei gegenüber, der traditionellen wie der modernen Form. Auf erstere muss hier nicht wirklich eingegangen werden. Ich habe in einem Wissensplitter kurz die historischen Grundlagen des Jakobswegs seziert und danach erübrigt sich jegliche ernsthafte Debatte. Das alles ist nichts weiter als politisch instrumentalisierter Glaubensdünkel mit enormen Logik-Abstrichen im storytelling. Die moderne Ausformung nervt aber fast noch mehr. Wie es dieser Weg in den letzten Jahrzehnten erneut geschafft hat zum Kult zu werden und seine Marketing-Strahlkraft quasi auf ein neues Level gehoben hat, begreife ich nicht, bzw. ich begreife es schon, allein es nervt halt. Von Beginn an war ich irritiert bis abgestoßen von dem großen Anteil der laut plappernden Pilger, die jede Gelegenheit nutzten, die Bedeutung ihres Fußmarschs unmäßig zu überhöhen. Konsterniert stand ich vor all den johlenden und sich beklatschenden Selbstfindungsinfluencern und begriff nicht was denn jetzt dermaßen großartig sein sollte. Aber das Zeitalter immerwährender Empörung scheint eben auch eine Ära der ausgelassenen Überhöhung von Belanglosigkeiten zu sein. Verdammt nochmal, ich liebe das Wandern, aber es ist letztlich doch nur laufen, draussen sein und ein ganz klein wenig Zivilisationsflucht. Nichts besonderes. Ein Berg, ist ein Tal, ist ein Berg!
Und überhaupt, haben all diese humpelnden und schwitzenden Wanderanfänger auf diesem faden Pfad eigentlich den Hauch einer Ahnung, so ging es mir oft durch den Kopf, dass es auch richtig abwechslungsreiche, schattige und aufregende Wanderwege gibt? Denn, das darf hier keinesfalls unerwähnt bleiben, der Jakobsweg begeisterte mich weder durch die Streckenführung noch durch seine landschaftliche Reize übermäßig. Es handelt sich weitestgehend um einen öden Rollsplittpfad durch nahezu lückenlose Kulturlandschaften und urbane Randgebiete, der, wie es scheint, versucht den Wanderer stets mit direkter Tuchfühlung zu gut befahrenen Autostraßen zu beglücken.
Aber genug des Verrisses. Ich schrieb anfangs, dass ich den Jacoblingen gegenüber ambivalente Gefühle entgegenbrächte, daher gehört hier natürlich auch noch etwas Ausgleichendes hinzu. Es handelt sich um einen bestens ausgestatteten Wanderweg durch eine Region, die den größten Teil des Jahres mit gutem Wetter glänzt. So kann dieser Weg mit Sicherheit für Anfänger und Sicherheit benötigende Einsteiger eine gute Idee sein. Die totale Sicherheit, in jedem noch so kleinen Dorf ein Bett, ein Bier oder einen Gesprächspartner zu finden, darf man keinesfalls unterschätzt werden. Dementsprechend bietet der Jakobsweg Menschen, die einfach nur ihrer Alltagsroutine entfliehen wollen, dabei andere Menschen kennenlernen möchten und nebenher etwas für sie Außergewöhnliches erleben wollen, den perfekten Einstieg. So ist der Jakobsweg auch eine Idee für ältere oder behinderte Menschen. Das können die meisten, von mir favorisierten Wanderwege nicht, oder nur eingeschränkt für sich reklamieren. Außerdem, wenn man jene, überall anzufindende Fraktion derer außer Acht lässt, die Selbstfindung mit Selbstdarstellung verwechseln, muss man die solidarische und freundliche Stimmung untereinander hier einfach anerkennen. Ja, natürlich kann das ständige „Buen camino“-Gegrüße nerven und die Einheimischen, die einen mit freundlicher Unerbittlichkeit auf den Jakobsweg zurückschubsen wollen, sobald sie eine Person mit Reisegepäck nur wenige Meter abseits der Route antreffen, tun der Sache auch nur aus einer ironischen Perspektive gut, aber insgesamt ist man hier unter guten Menschen, die, wie auf einem riesigen Klassenausflug gemeinsam eine großartige Erfahrung machen.
Doch so richtig begriff ich das alles erst in Santiago de Compostela, dem über die gesamte Strecke hinweg angeschmachteten und glorifizierten Ziel des Ganzen. Auch ich hatte mich mit den Jacoblingen zusammen gefreut hier anzukommen. Eigentlich hatte ich angedacht, hier für eine gewisse Zeit an die Kathedrale zu sitzen und mich über all den aufgeladenen Klamauk, der hier zu seinem natürlichen Höhepunkt kommen sollte, königlich zu amüsieren. Doch dann setzte sich diese schmächtige Asiatin neben uns, öffnete andächtig ein Bier und begann ganz leise im Angesicht der Kathedrale zu weinen. Verwundert bemerkte ich, dass auch mir die Tränen in die Augen stiegen und ich verstand. All der klerikale Kokolores, der Hype und der unerträgliche Kommerz sind in dem Moment überhaut nicht mehr von Belang und der Rede wert, wenn ein Mensch, der aus eigener Kraft hierher gelaufen ist, hier tatsächlich ankommt.
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