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Die Reiseroute (grob zusammengefasst)
Als sich am 10. April, nach langer Winterpause die Karawane in Bewegung setzte, knirschte es gewaltig in allen Scharnieren und Gelenken. Doch nach kurzem und intensivem Abschied von den glücklichen Bäumen und Bergen Georgiens, traten wir rotzfrech die Reise nach Aserbaidschan an. Angesichts der komplett konfusen Einreisepolitik sollte dies eines der heikelsten Kapitel dieser Reise werden. Wir hattwnn aufgrund eines unglaublichen Glücksfalls eine Sondergenehmigung ergattert um per Land einzureisen, und nach einigen Diskussionen (hauptsächlich mit den georgischen Grenzern!) sind wir drin! Aserbaidschan!!! Das letzte, lang ersehnte Mosaiksteinchen um den Kaukasus in Gänze zu genießen. Hier erleben wir ein paar ganz besondere, außergewöhnliche Wochen bis wir die mythenüberfrachtete Fähre über das Kaspische Meer nehmen um endgültig nach Asien überzusetzen. Angekommen in Aqtau (Kasachstan), nehmen wir angesichts der wenig verlockenden Aussicht auf hunderte von Kilometern gegenwindversüßter Todessteppe den Zug und fahren mit einem Umstieg nach Nukus in Karakalpakstan. Von hier aus radeln wir dann aber wider alle Widrigkeiten durch ganz Usbekistan. Ich verbringe meinen dritten Reisegeburtstag in der Märchenstadt Chiwa, wir quälen uns durch die Wüste Kysylkum, kippen in Buchara vor Staunen aus den Pantoffeln, durchkreuzen das fruchtbare Land bis Samarkand, wo wir dann endgültig selig lächelnd, reizüberflutet kollabieren. Nach ausreichend spektakulärer, einzigartiger Architektur zieht es uns dann nach Tadschikistan um die unübertrefflichsten Kompositionen des bekannten Universums zu erleben – die Natur! Trotz erbitterster Anstrengungen des humanoiden Tumors fanden wir hier im Fan-Gebirge noch jene Idylle, die wir so lieben, brauchen und wegen derer wir diesen ganzen Bums hier eigentlich machen. Nach diesem Hochgenuss begaben wir uns wieder zurück in die Niederungen der menschlichen Zivilisation. Wählten allerdings mit Taschkent einen ihrer akzeptableren Lichtblicke.
Schockverliebt in Aserbaidschan

Aserbaidschan! Die große Unbekannte. Was hatte dieses kleine Land sich interessant gemacht. Eine Landgrenze, die seit Covid geschlossen und immer wieder, im Drei-Monatsrhythmus Hoffnungen auf Öffnung schürt nur um dann weiterhin auf einer geschlossenen Grenze zu bestehen, für die es keine rationalen Gründe mehr gibt. Ein erbärmliches, unverständliches Schmierentheater, welches Reisende und Einheimische seit fünf Jahren gehörig nervt. Doch wie so oft, ist staatliches Missmanagement kein Indikator für eine ebenso dementsprechend problematische Bevölkerung. Ganz im Gegenteil!
Von ersten Augenblick an (wortwörtlich gemeint: Schon der erste aserbaidschanische Grenzer war ein Ausbund an Freundlich- und Herzlichkeit. Ich wiederhole: Mann in Uniform, eine Autoritätsperson – FREUNDLICH!!!) schlug uns eine Welle an unerschöpflicher Herzenswärme, höflichem Interesse und selbstloser Gastfreundschaft entgegen, wie wir sie so noch nie auf all (!) unseren Reisen erlebt hatten. Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig und ich versuchte diesem Phänomen in meinem abschließenden Aserbaidschan-Rapport nachzuspüren, fest steht allein, diese einzigartige Stimmung führte zu ganz außergewöhnlichen drei Wochen, die unvergesslich sein werden. Diese Menschen werden für immer einen festen Platz in unserem Herzen haben.
Noch genug geschnulzt! Was hat uns noch fasziniert an Aserbaidschan? Was war außergewöhnlich, bemerkenswert, anders als überall? Mit dem Abstand von ein, zwei Monaten – was ist hängengeblieben?! Offen gesagt: Die Sauberkeit, die Kultiviertheit, die Liebe für die kleinen Details am Straßenrand. Wie Parkbänke, Mülleimer, Trinkwasser. Es mag bitter erscheinen im Vergleich zum, vom internationalen Tourismus-Jetset allseits laut und ausschweifend gefeierten Nachbarn Georgien wirkt Aserbaidschan wie die aus dem Ei gepellte Unschuld. Unser erster, omplett verdatterter Eindruck war: Ach, du jeh, es kann also tatsächlich so schön sein! Und man kann all dies sich sogar entspannt während des Radfahrens anschauen, weil man sich nicht in seinen Lenker verkrampfen muss, um von einer Nahtoderfahrung in die nächste zu hüpfen, denn auch die grenzdebile Rücksichtslosigkeit der georgischen Autofahrer ist plötzlich nur noch eine verblichene Erinnerung an einen garstigen, absurden Alptraum.










Ladas, überall fahren funkelnagelneue Ladas herum. Aus einigen wird lächelnd gewunken, manch einer hält an, grüßt mit dem allgegenwärtigen „откуда“, fragt ob man irgendetwas braucht, ob es einem gut geht. Ja, хорошo, bis bald und lass es dir gut gehen, geschätzter Reisender, in diesem meinen Land. So kitschig das klingt, aber so waren unsere ersten Stunden und auch die weiteren Tage hier. Wo wir auch rasteten, wurden wir zu Tee und Essen eingeladen, Zimmer wurden für die Nacht frei geräumt und stets hatte man bei alldem den Eindruck, den Gastgebern einen Gefallen zu machen, in dem man deren Angebot annahm. Russisch ist hier nun auch eine ernstzunehmende Verkehrssprache, die ohne sichtbaren Widerwillen genutzt wird. Was außerdem von Anfang an auffällt, ist die Häufigkeit von ehemaligen Rotarmisten, die in der DDR ihre Armeezeit verbracht haben. Auch das hat uns natürlich oft genug einen gelungenen Gesprächseinstieg geliefert.
Und dann natürlich der Tee! Allein bei dem Gedanken an all die duftenden, aromatischen Kannen, die wir hier serviert bekamen, verfalle ich in träumerische Sentimentalität. Auch in Anbetracht der teils schockierenden, usbekischen Teebeutelkultur!
Stippvisite Kasachstan
Knappe fünf Tage verbrachten wir nur in Kasachstan und doch werden diese Tage lang in Erinnerung bleiben. Nicht nur der klischeehafte Empfang durch das blanke, unverfälschte Nichts namens Steppe, die freischaffenden Pferde und Kamele, sondern vielmehr die umfassendste Veränderung, die ich jemals durch eine einzelne Ländergrenze erlebt habe. Nicht nur das Aussehen und Verhalten der Menschen änderte sich mit der kleinen Überfahrt über den Kaspisee, sondern auch Sprache (hier nun Russisch nicht nur als Verkehrs- sondern Zweitsprache) und die gesamte Kulisse und Oberfläche wirkte nicht mehr wie der europäisch geprägte Kaukasus sondern halt wie eine ganz andere Welt, ein anderer Kontinent – Asien, halt.










Man kann hier wohl im positivsten Sinne von einem Kulturschock sprechen, immer wieder ertappte ich mich bei Schlendereien durch Aqtau dabei, wie ich, während ich die Passanten gedankenverloren betrachtete, überlegte, wo denn der Reisebus stände, der diese Touristen hier ausgekippt hätte. Schnell stellte ich fest, dass es sich genau andersrum verhielt und das war für einige Tage tatsächlich sehr verwirrend, aber ich genoss diesen Zustand. Selten, sehr selten kann man auf einer Radreise derlei markante Kontraste erleben. Die Unterschiede in Europa sind dagegen marginal und selbst die, auf dieser Reise erlebten Unterschiede zwischen Sizilien und Tunesien oder Andalusien und Marokko konnten nicht mit diesen Unterschieden hier mithalten.

Doch schnell, viel zu schnell gewöhnte man sich dran. Obwohl ich noch immer die buntgewandeten, fröhlichen Frauen und die verschmitzt dreinschauenden Männer genieße und langsam begreife, wie weit ich weg bin von meinem vertrauten europäischen Haus. Die anstrengende Zugfahrt nach Nukus mit einem Umstieg im gottverlassenen Beneu (hier eine vorzüglich formulierte Hommage auf diese „Stadt“ eines Reisenen, der hier für fünf Tage strandete) erforderte unsere komplette Aufmerksamkeit und so fanden wir uns nach knapp 30 Stunden Wüstenkreuzfahrt mitten Karakalpakistan wieder.
Sahnehäubchen Usbekistan
„Welcome in Karakalpakistan“ riefen uns die Leute fröhlich am viel zu frühen Morgen entgegen und mein mühsam in die Gänge kommendes Bewusstsein fragte zaghaft nach, wo, verdammt wir denn in den letzten Tagen falsch abgebogen sein könnten. Wir brauchten etwas um uns zu akklimatisieren und das war auch wortwörtlich gemeint, denn unser neues Zuhause meinte es wirklich ernst mit dem warmen Empfang.







Unser Weg von Nukus nach Chiwa war ein holperiger, verschwitzter Sprung in eine komplett andere Realität. Der Straßenbelag gehörte zum miserabelsten was wir seit Ewigkeiten erlebt hatten, die Autofahrer hupten ununterbrochen und die trostlose Halbwüste ließ den letzten Rest an Radelfreude verdorren. Machen wir uns nichts vor – es war die Hölle! Mehr als einmal zuckten die Gedanken ein oder auch zwei Jahre zurück. Hin zu den duftenden Radwegen der Provence oder den einsamen Stränden Sardiniens… Aber wir hatten da ja diesen Lebenstraum. Seidenstraße. Mongolei. Einsame Sternennächte in der Jurte. Aber bis dahin musste wohl noch einiges an Staub gefressen werden.
Wie es die meisten Extremsituationen so an sich haben, schlagen sie gerne in beide Richtungen aus und so waren nach dem Staub- und Schweißexzess die Tage (mein dritter Reisegeburtstag fand hier statt) in Chiwa ein surrealer Ausflug in die Welt von Tausendundeine Nacht und Märchenland. Restlos gebannt und das alles um uns herum nicht recht glauben wollend, tapperten wir durch die kleine, aber feine Altstadt. Immer wieder realisierend, ja, das sieht aus wie Seidenstraße, das riecht wie Seidenstraße – wir sind da. Dort wo wie schon so lange sein wollten. Wir hatten uns schon viele Träume auf dieser Reise erfüllt, aber das war einer der gewaltigsten. Und auch dies ist ein wichtiges Anzeichen und eine relevante Antwort auf die oft gehörte Frage, wie lange wir das denn noch machen wollen: Solange wir noch derart ins Staunen geraten können, soviel Begeisterung aus uns herausgekitzelt werden kann, solange gibt es keinen Grund, mit der Rumtreiberei aufzuhören.













Und mit Chiwa hörte der Zauber ja noch lange nicht auf. Vielmehr begann dort erst unsere traumwandlerische Lustwandelei durch eine verschnörkelte, unwirkliche Welt – Buchara, Samarkand – so fremd und orientalisch wie wir es uns immer erträumt hatten, aber es ist hat eben auch immer eine merkwürdige Nuance wenn sich Träume erfüllen. Wir genossen es dennoch in vollen Zügen, gönnten uns dekadente Aufenthalte in (für uns bezahlbaren) Unterkünften, schlemmten uns durch die (gar nicht so) verschiedenen Plovs und konnten uns einfach nicht sattsehen an diesen märchenhaften Kulissen. Doch zwischen diesen Traumwelten befanden sich weiterhin zuverlässig Alptraumozeane – zwischen Chiwa und Buchara musste die Wüste Kysylkum durchquert werden und der Weg nach Samarkand forderte uns noch einmal alles an radfahrerischer Resilienz ab: absurd schlechter Straßenbelag, heftig befahrene Straße mit unablässig hupenden Autos und stickiger Hitze. Abgemildert wurde all dies nicht unbedeutend durch die liebevolle Gastfreundschaft der Usbeken. Zahllos die Einladungen zu Tee und Essen, unerschöpfliche Vorräte an Obst und Gemüse, die uns aufs Fahrrad geschnallt wurden und herrlich befreiend die allabendliche Aussicht auf einen sicheren Schlafplatz. Ob er nun in einem Restaurant am Straßenrand oder im Hof eines Einheimischen war, stets fanden unsere müden Augen am Abend den Blick eines verständnisvollen Menschen, der uns ohne mit der Wimper zu züucken ein Lager für die Nacht bereitete.






Und schließlich dann, zum Abschluss, als krönendes Finale: Taschkent! Die einzige wahre Metropole Zentralasiens – vielgerühmtes Juwel in der Mitte der Welt. Grün, schattig und mit unfassbar breiten Straßen nahmst du uns für eine ganze Woche auf. Wir reparierten hier uns (Rücken+Zahn) und brachten unsere Räder so richtig auf Vordermann. Man spürte die Drei-Millionen-Stadt nur wenn man sich Mühe gab. Natürlich ist der Verkehr massiv und als Fußgänger fühlte man sich allzu oft an den Rand gedrängt, aber es gab reichlich Komfortzonen und so viel zu sehen, dass man darüber hinwegsehen konnte. Taschkent gehört zweifellos zu den entspannteren Großstädten, die wir kennengelernt haben.
Noch ein paar Beobachtungen zu Taschkent: 1966 erschütterte ein schweres Erdbeben die Stadt, welches die damalige Einmillionenstadt fast komplett zerstörte. Merkwürdig dabei ist, dass es nur 8 Todesopfer gab (4 davon sprangen in Panik aus ihren Wohnung und 4 hatten einen Herzinfarkt!). Durch das erste Beben (welches nur 5 km direkt unter der Stadt war!) wurden die Menschen aus dem Schlaf gerissen und aus ihren Häusern gescheucht. Dann konnten sie von der Straße aus zusehen, wie 33 (!!!) Nachbeben ihre Häuser zerstörten, anstatt selbst unter dem Schutt begraben zu werden.





Und was nun geschah, ist das Besondere und macht bis heute den Charme von Taschkent aus. Taschkent wurde auf eine Art gerettet, wie wir sie heute allenfalls noch von der Rettung von Banken kennen: Sämtliche Sowjetrepubliken sowie die Stadtverwaltungen von Moskau und Leningrad verpflichteten sich, auf Kosten ihrer jeweiligen Wohnungsbaugesellschaften neue Wohnungen für die Taschkenter Innenstadt zu errichten. Das führte dazu, dass man hier quasi in einem Freiluftmuseum sowjetischer Baukunst wandeln kann, denn die Baukombinate der verschiedenen Unionsrepubliken bauten zwar alle seriell, aber die jeweiligen Serientypen waren eben doch alle irgendwie ein wenig anders. Damit entstand so etwas wie ein allsowjetisches Patchwork in der man begreift wie krass der Variantenreichtum innerhalb von Standardisierung sein kann. Wenn man jetzt ausreichend Architekturnerd wäre, wüsste man, durch welche Republik man gerade spaziert, aber dafür reichte es bei mir natürlich nicht.
Wechselbalg Tadschikistan
Und dann war auch mal wieder gut mit Orientschmachterei und Herumhängen in Städten. Die Berge riefen und zwar nicht gerade zurückhaltend. Wir fuhren auf, mal wieder absolut indiskutablen Straßenbelag , die Hauptverbindung von Samarkand nach Tadschikistan und hörten zunächst nur die Rufe unzähliger Kinder. „Helau“ schallte es von nun an fortwährend aus Busch, Wiese, und Berg; hinter dem Strommast, aus dem Gully, aus Gärten, Höfen und Häusern. Wo man auch fuhr, stand oder saß – eines war sicher – man hatte umgehend eine stattliche Zahl von Kindern um sich herum, die einen unverwandt anstarrten. Wir hatten diese Erfahrung mit den unüberschaubaren, sich selbst überlassenen Kinderscharen bereits in Marokko erlebt und es sollte nicht der einzige, marokkanische Déjà-vu-Moment bleiben.








Mit Tadschikistan betraten wir erstmals seit Marokko wieder ein Land, welches unzweifelhaft zu jenen Ländern gehört, für die es anscheinend keine allgemeingültige Kategorie gibt. Dritte Welt, globaler Süden, Endwicklungsländer? Keine Ahnung was aktuell der korrekte Begriff ist, aber der aufmerksame Reisende spürt derlei Verschiebungen im Wohlstands- und Existenzkontinuum sehr schnell. Tadschikistan ist und war das Armenhaus der Region, doch auch wenn man sich das vorher angelesen hat, ist man dann, wenn man davor steht, schockiert. Alles wirkt verschlissen, gebraucht oder kaputt (außer den Straßen, die endlich wieder spiegelglatt und befahrbar waren), das Angebot auf den Märkten und in den Lebensmittelgeschäften ist karg und einseitig (Zuckerprodukte, Brot und Konserven, dazu ein wenig Gemüse und Obst der Saison).







Doch abseits der bedenklichen Schieflage, die die Zivilisation hier aufzeigt, tut sich eine phänomenale, außergewöhnliche Naturkulisse auf: Das Dach der Welt beginnt nämlich genau hier. Die Berglandschaften des Pamir, die wir drei Tage erwanderten, gehören zweifellos zu den spektakulärsten Landschaften, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe.
Bedenkens- und Bemerkenswertes
Ich erwähnte die Bedeutung von Russisch in dieser Region bereits, aber es sei hier nochmals hinterhergeschoben, dass man sich in allen der besuchten Stans mit Russisch so ausgezeichnet verständigen kann, dass ich wohl so wenig wie in kaum einem anderen Land, in dem ich so lange herumreiste, mit den jeweiligen Landessprachen in Berührung kam. Das hat gleichermaßen eine entspannte wie eine bedauernswerte Komponente. Einerseits stellte die Möglichkeit zur problemlosen Kommunikation überall und mit jedem natürlich einen absoluten Bonuspunkt dar, andererseits fand ich es als Sprachenfreund doch schade so rein gar nichts mitzunehmen und mitzubekommen von der neuen, fremden Sprache.
Schon in Aserbaidschan begann es: Die Männer spuckten und spieen sobald sie Gelegenheit dazu fanden. Und das fanden sie oft. Zu oft. Es fiel uns bisweilen schwer dies zu ertragen, da es unablässig und fast überall geschah. So fragten wir uns natürlich was dahinter steckt. In meiner Erinnerung war das Spucken auch in meiner frühen Kindheit eine häufig gesehene Angewohnheit von Männern und Jugendlichen. Schon damals kam ich nicht hinter die Motivation dieses Treibens. Hier in Zentralasien lüftete sich das Geheimnis in dem Moment als wir von Naswar erfuhren. Eine Form des Kautabaks, genauer, eine verführerisch klingende Mischung aus Tabakblättern, Asche, Löschkalk und Aromastoffen. Uns wurde versichert, dass die, beispielsweise in Kasachstan verbotene Mischung, in Usbekistan quasi jeder Mann genießen würde. Das erklärt einerseits den auf den ersten Blick überraschend, hohen Nichtraucheranteil in der Öffentlichkeit, sowie andererseits dieses fortwährende Rumgespucke.
Ausblick
Es mag aus den vorangegangenen Zeilen schon hervorgequollen sein, es war nicht alles wunderbar in unserer zentralasiatischen Episode. Ganz im Gegenteil. Sicher, wenn wir in den letzten Jahren vom großen Abenteuer im Osten träumten, dann ahnten wir, dass uns das einiges an Entbehrungen und Opfern abverlangen würde. Der Weg zum Pazifik war wahrscheinlich verbunden mit reichlich Schweiß und Tränen. Zentralasien war schließlich kein lavendelduftender Ponyhof am Eurovelo! Doch die Wirklichkeit ist manchmal halt etwas zu wirklich. Und so rutschten wir irgendwann in eine kleine Zentralasienkrise. Irgendwo zwischen staubiger, namenloser Holperpiste bei kuscheligen 40 Grad im Schatten, schauten wir in das weite Ödland um uns herum, resümierten das Erlebte, lugten in die Zukunft und fragten uns knallhart, wofür wir das alles eigentlich täten?! War es das was wir wollten?!! Irgendwie doch wohl nicht. Für uns war und ist das Fahrradfahren stets nur ein Mittel zum Zweck, ein angenehmes Transportmittel, mehr nicht. Es geht uns nicht darum Rekorde zu brechen, an unsere Grenzen zu geraten oder puristische Reisekonzepte auszuleben. Uns ging es stets darum, eine angenehme Zeit zu haben, schöne Landschaften zu erleben und mit wenig Materiellem viel Ideelles zu schaffen. Das hier ging alles ein wenig über das Ziel hinaus.
Und so gönnten wir uns eine Woche das Medikament Taschkent, jammerten und klagten, wägten ab und prüften dies, bis wir schließlich zu folgender, uns urplötzlich wieder glücklich machenden Erkenntnis kamen. Wir waren hier für die kristallklaren, Bergseen, duftenden Bergwiesen und stolzen Berge. Nicht für drängelnde Hupcholeriker, absurde Straßenbeläge und sonstige Stressfaktoren. Wir fahren jetzt rüber nach Kasachstan, prüfen dort die Gegebenheiten und wenn es uns schlechte Laune machen sollte, nehmen wir den nächsten Zug und fahren nach Almaty, wo wir die Räder für ein paar Wochen stehen lassen um uns in die Berge zu verziehen.
[Update: Eine gute Woche später sitze ich in einem schattigen Park in Taras mit Bahntickets für die nächtliche Fahrt nach Bischkek. Kasachstan hat alles getan um uns mit Zentralasien zu versöhnen: Freundliche Menschen (dafür nicht so viele), gut erzogene, schüchterne Kinder, überall Pferde und ständig beste Aussichten (es ist wie als wäre der Horizont aufgeklappt!) Dieses Land macht einen ungemein aufgeräumten, modernen Eindruck. Wir fühlen uns hier rundweg wohl und haben auf den zurückgelegten knapp 300km die Freude am Radfahren erneut für uns entdeckt. Dennoch kürzen wir jetzt minimal ab weil es uns zu sehr in die Berge zieht und die Zeit mal wieder fehlt für alles. ]
Und mittelfristig? Darüber hinaus stellten wir fest, wie der uralte Traum von der Jurte in der Mongolei immer mehr an Attraktivität einbüßt. Noch mehr Steppe? Noch mehr eintöniges Essen? Noch mehr Staub und Gegenwind? Und entschieden zu wenig Meer! Nein, das „richtige“ Asien, der Ferne Osten gewinnt immer mehr an Reiz. Korea blinzelt verschmitzt am Horizont. China flötet friedlich vor sich hin. Und Japan, natürlich,Japan sowieso! Schauen wir mal, wie es weitergeht. Wir sind gespannt.
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