Als wir nach jeder Menge Steppe, Halbwüste und Wüste endlich in Tadschikistan auf Berge stießen und wir verschüchtert die Köpfe nach oben neigten, wussten wir wieder was uns gefehlt hatte. Wenig kommt an die Erhabenheit eines stattlichen Hochgebirges heran. Der erste Botschafter von den zahlreichen Gebirgen, die da auf uns warteten war das Fan-Gebirge (tadschikisch Кӯҳҳои Фон), winem westlichen Ausläufer des Pamirs. Von diesem Gebirge mag man eventuell schon gehört haben, doch als ich mich kurz mit der Einordnung dieser Berge beschäftigte, erfuhr ich überrascht, dass es schon zum „Dach der Welt“ gerechnet wurde. Bislang hatte ich immer angenommen, dass man mit dieser Metapher einzig den Himalaja bezeichnen würde.
Doch weit gefehlt. Schaut man sich die Begriffswerdung genauer an, erfährt man staunend, dass ursprünglich das Pamir-Hochland Pate für diese blumige Beschreibung stand:
In älteren Nachschlagewerken wird der Begriff ausschließlich für das Pamir-Hochland verwendet, so der Große Brockhaus von 1928 ff.: „Dach der Welt, Bezeichnung für das Hochland von Pamir“ oder The Columbia Encyclopedia von 1942. Letztere erklärt das Wort „Pamir“ selbst als persisches Wort mit der Bedeutung „Dach der Welt“, ebenso die Encyclopaedia Britannica („Bam-i-dunya = Roof of the World“. Die Bezeichnung geht auf John Wood (1812–1871) zurück, einen schottischen Forschungsreisenden, der als Marineoffizier im Auftrag der Englischen Ostindien-Kompanie das Indusgebiet und die Pamir-Täler erforschte. 1838 berichtete er, dass der „einheimische Ausdruck“ Bam-i-Duniah oder „Roof of the World“ (wahrscheinlich aus dem iranischen Wachi-Dialekt) für den Pamir üblich sei. Laut Großem Brockhaus hingegen ist das Wort „Pamir“ türkisch und bedeute „kalte Steppenweide.“ Das Pamir-Hochland sei „Knotenpunkt der Gebirgssysteme des Tianshan, Kun-lun, Karakorum, Himalaja und Hindukusch, daher das Dach der Welt genannt.“ In jüngeren Brockhaus-Ausgaben ist allerdings „daher“ durch „auch“ ersetzt und der Pamir als „Knoten großer Gebirgssysteme“ wird etwas anders definiert: „TianShan, Alai-Gebirge, Trans-Alai, Kunlun, Karakorum und Hindukusch“.
Doch war der Pamir noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „am Besten erforschte Region Hochasiens“, wendete sich dann das Interesse immer stärker Tibet zu und damit übertrug sich der Begriff „Dach der Welt“ mehr und mehr in diese Region. Und so kam es dazu, dass auch ich den Pamir lediglich als schnödes Vordach der Welt interpretierte. Damit ist nun natürlich Schluss.
Als wir vom Dach der Welt hinunterrollten, stießen wir unvorbereitet auf dieses Denkmal und waren nachvollziehbarerweise ein wenig irritiert. Selbstverständlich heißt die Skulptur der Wölfin, welche zwei Knaben säugt, „Kapitol, die Wölfin“. Von heißer Neugierde angefeuert, begann ich zu recherchieren: Bei den Ausgrabungen im Palast des Herrschers des Königs Ustruschan Afshin wurde eine Wandmalerei aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. entdeckt mit der Darstellung einer Wölfin, die zwei Babys stillt (leider konnte ich keine Kopie davon im Internet finden). Wobei es sich um ein wirklich bemerkenswertes Wandgemälde handeln muss, denn die Darstellung des Mythos wird in fünf Szenen auf einem sechs Meter langen Wandbild aus dem 7./8. Jahrhundert dargestellt, welches sich im Palast der Stadt Bundschikat befand. Eine der Versionen des offensichtlichen Zusammentreffens mythologischer Handlungsstränge besagt dabei, dass die Geschichte der Wölfin ursprünglich im Osten entstand, von wo sie zu den Etruskern und von ihnen zu den Römern wanderte und zur Hauptlegende der Ewigen Stadt und zu ihrem Wahrzeichen wurde. Als Ergebnis eines breiten Austauschs kultureller Werte zwischen dem antiken Osten und Westen verband diese „Wanderhandlung“ offensichtlich das antike Rom und das nicht minder antike Istarawschan.
Mit abgewandten Rücken goutieren die stolzen Ahnen den ungebremsten Wachstum dessen was früher mal sowas wie das antike Istarawschan gewesen sein könnte.
Zurück in Kasachstan erreichten wir nach kurzer Zeit Shymkent – die drittgrößte Stadt Kasachstans. Die drittgrößte? Da ist man stolz, die ersten zwei zu kennen (das könnte ich so aus der Hüfte bei keinem der anderen Stans behaupten!) und schon durchquert man eine bislang nie gehörte Millionenstadt, die direkt hinter Almaty und Astana folgt. Überhaupt, wie mir auffällt, eine sehr interessante Quizkategorie die ersten beiden sitzen ja oft ganz locker (Madrid-Barcelona; Moskau-St.Petersburg),aber die Nummer Drei?! Bei welcher wäret ihr euch da hundertprozentig sicher? Außer München und Shymkent, natürlich.
Dabei gilt Shymkent übrigens als Hauptstadt Südkasachstans und mal wieder als Teil einer uralten Kulturlandschaft. Schon ein flüchtiger Stadtspaziergang lässt selbst den zerstreutesten Besucher erahnen, dass hier irgendwas mit Blumen, genauer Tulpen, geht. Während ich so vor mich hin schlendere, pariere ich locker zur nicht minder lässig schlendernden Liebsten: „Wahrscheinlich liegt hier sogar das Ursprungsgebiet der Tulpe – die Tulpe Zero quasi.“ Schließlich weiß man ja was so alles an feinen Sachen ursprünglich aus den uralten Kulturlandschaften Zentralasiens kommt (Knoblauch, Zwiebeln, Äpfel, Aprikose, Pistazien, Melonen, Mandeln, Gurken, Auberginen, Karotten u.v.m.) Und tatsächlich – die umliegenden Hügel sind die Ur-Heimat der Tulpe. Womit sich der Kreis also wieder schließt: Amsterdam und Rotterdam, klar. Aber dann?
Wenn wir schon mal bei so etwas schwer Vorstellbaren wie Herkunfts- und Evolutionsgeschichte von Pflanzen wie Tulpen und Äpfeln sind, dann liegt der Gedanke nahe, sich zu fragen wo denn die Pest genau hergekommen ist. Aus dem Osten, so quakt das gepflegte Halbwissen. War da nicht was mit den Mongolen, stimmt das Passivwissen zu?! Tatsächlich vermuten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie auf der Basis von Genom-Analysen, dass um das Jahr 1338 der Erreger des Schwarzen Todes am Yssyk-Köl auf den Menschen übersprang. Der Yssyk-Köl, dieser an sich schon gewaltig mythenumrankte und geheimnisumwitterte, zweitgrößte Gebirgssee der Erde. Vieles gäbe es über diesen See zu erzählen: Er friert trotz monatelangen Temperaturen unter -20°C nicht zu, Unterwasserarchäologen haben Überreste einer antiken Stadt gefunden, die möglicherweise mit der Seidenstraße in Verbindung stand, das sowjetische Militär testete hier U-Boote, undundund… Ein wahrhaft ergiebiger Steinbruch für diese kleine Kolumne, so dass ich mich gezwungen sehe, mich zu entscheiden. Und ich gestehe, die Sache mit dem Ursprung der Pest fasziniert mich einfach am stärksten.
Wenig später war sie dann bereit für ihren Europa-Auftritt (hier Napoli, 1656)
Lange hatte man den Ursprung der Schwarzen Pest und dessen Erreger „Yersinia pestis“ in China vermutet. Doch vor kurzen entdeckten Forscher hier am Yssyk-Köl Gräber mit menschlichen Überresten bei deren genetischer Analyse man das Pestbakterium fand. Doch nicht nur das. Als man die DNA verglich und einordnete, erkannte man, dass sich das vorliegende Genom praktisch an der Schnittstelle aller bekannten Pest-Genome befand. Es handelt sich hier also tatsächlich um den gemeinsamen Vorfahren aller späteren Peststämme.
Einer der bizarrsten Momente auf dieser, an bizarren Momenten nicht gerade armen Reise, war, als wir am Ufer des Yssyk-Köl die noch jungen Ruinen von Aalam Ordo erblickten und wenig später urch sie hindurchstreiften.
„Das 2009 erbaute Aalam Ordo sollte ein Zentrum für Kultur, Wissenschaft und Spiritualität werden. Die Vision hinter dem Projekt war groß. Hier sollte die kirgisische Jugend die Älteren treffen, um Ideen auszutauschen und zu lernen – ohne Vorlesungen, Lehrpläne oder Unterricht.Die Gemeinschaft sollte in 365 Jurten leben, von denen 36 den Älteren vorbehalten waren. Die Hoffnung war, dass dies eine neue Generation fördern und entwickeln würde, deren Ideen weit entfernte Länder erreichen und Kirgisistan einen Nobelpreis einbringen könnten.Leider wurde Aalam Ordo nie zu dem renommierten Kulturzentrum, das es werden sollte. 2010 wurde der damalige Präsident Kurmanbek Bakijew im Zuge der Zweiten Kirgisischen Revolution entmachtet. Das Projekt wurde nie abgeschlossen, und der Komplex steht heute leer.“
Tscha, was soll man dazu sagen?! Eine kirgisische Utopie mitten im Nirgendwo. Man kann sich einiges fragen wenn man durch diese riesigen, malerischen Ruinen wandelt. Doch zumindest die Frage, warum hier, an diesem Ort wollen wir uns versuchen anzunähern. Der für dieses Projekt zuständige Mäzen Taschkul Kereksisowe begründete den genauen Standort des Komplexes mit einem proportionalen Vergleich zwischen den jeweiligen Oberflächen der Erde und der des menschlichen Körpers, beziehungsweise mit der menschlichen Haut. Er leitet daraus ab, dass wenn die Oberfläche der Erde der des Menschen entspräche, der Yssyk-Köl die Pupille des Körpers wäre. Der See ist bei Taschkul Kereksisow ähnlich einem Auge, das zum Universum schaut.
Der Yssyk-Köl von oben betrachtet. Ja nun, Esoterik hin, Rationalität her – da kann man schon mal ein Auge drauf werfen
Und weiter geht’s mit dem kleinen, ungemein knuddeligen Kirgistan.
(Ich verzichte im übrigen bewusst auf die komplett unnötige zusätzliche Silbe „is“ , die einem von der korrekten deutschen Schreibweise vorgeschrieben wird. Ich begreife das komplett nicht. Sämtliche anderen Sprachen verwenden eine Variante von Kirgistan, nur im Deutschen wird offiziell von Kirgisistan geschrieben und wahrscheinlich auch gesprochen. Die wackelige Begründung hierfür ist, dass es „klanglich flüssiger wirke“ als Kirgistan. Ich bitte euch! Hört ihr euch eigentlich selbst zu wenn ihr eure Sprachkonventionen verfasst. Und apropos, wer genau ist dafür eigentlich verantwortlich? Ich würde gerne eine Bescherde einlegen.)
Wir fühlten uns hier auf Anhieb wohl und das mag zu einem klitzekleinen Anteil auch an dieser ausnehmend hübschen Nationalflagge liegen. Denn diese sieht nicht nur wirklich gut aus (in meinem persönlichen Ranking entweder Platz drei oder vier weltweit) Also Ring frei für den allseits beliebten Wissensbereich: „Spaß mit Flaggen“.
Die Nationalflagge Kirgisistans zeigt auf rotem Hintergrund eine gelbe Sonne mit 40 Strahlen. Die Farbe Rot steht für das Banner des kirgisischen Nationalhelden Manas, die 40 Strahlen der Sonne für die 40 Stämme der Kirgisen. Im Zentrum der Sonne ist ein roter Ring dargestellt, der zweimal von jeweils vier Linien durchkreuzt wird. Diese Linien sind eine stilisierte Darstellung der Krone (Tündük) einer traditionellen kirgisischen Jurte. Die Sonne, die durch die Dachöffnung der Jurte scheint, ist symbolisch für das, was man zuerst sieht, wenn man in einer Jurte aufwacht.
Hier habe ich diesen wunderbaren Hintergrund des Flaggenmotivs mal kurz collagiert.
Aber Moment Mal, 40 Stämme? Hatten wir nicht kurz zuvor etwas von 36 Jurten, also Stämmen gelernt. Wohin sind denn die vier Stämme abgeblieben? Als ich in Bischkek durch das hochnotoffizielle Nationalmuseum wanderte, entdeckte ich diese Stammestafel, die ja wohl nun die staatlich geprüfte Anzahl belegen sollte.
Hier zähle ich nun nur 37 Stämme, ach, es ist schon nicht einfach, die Familie zusammenzuhalten. Wobei es ja in diesem Falle noch ein Stück peinlicher ist, denn die Kirgisen glauben, dass ihr Volksname vom Begriff kirkkyz („vierzig“) abstammt und sie selbst Nachfahren von 40 Stämmen seien, welche wiederum im 8. Jahrhundert auf der Flucht vor den Mongolen aus dem sibirischen Jennisei-Tal hier gelandet wären. So gesehen könnte man also leger behaupten, dass die 40 Stämme nur die Grundlage des mächtigen kirgisischen Waldes waren, dennoch wäre es doch angebracht wenn man diese wenigstens in der Theorie zusammenbringen würde.
Und zum Abschluss noch eine kleine Rätselei, die uns die Hauptstadt Kirgistans verschafft. Ein, auf den ersten Blick wirklich schwer zu begreifendes Wappen. Was wird da abgebildet? Eine Welle? So fern von jeglichen Meeren, anderseits wäre ja der Yssyk-Köl um die Ecke. Oder hat es etwa zu tun mit Kumys? Denn schließlich leitet sich der Name der Stadt vom kirgisischen Wort für den hölzernen Rührstock ab, der zur Herstellung des köstlichen, vergorenen Stutenmilchgetränks verwendet wird. Alles weit daneben. Ein Schneeleopard soll es sein. Ja, jetzt wenn man es weiß. 300 von diesen scheuen Tieren sollen sich noch in den hohen Bergen Kirgistans rumtreiben. Wer und wie auch immer diese gezählt wurden, das ist eine andere Frage.
Hand aufs Herz – was seht ihr auf dem Wappen von Bischkek? Ein wahrer Rohrschachtest für Heraldiker. Ein Schneeleopard soll es sein.
Wenn ich „Kirgisistan“ höre, denke ich immer, der Sprecher ist sich nicht sicher, ob es „Kirgistan“ oder „Kirgisien“ heißt.