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Man ist gerade frisch aus der Fähre getappert, beschnuppert noch leicht verschlafen das neue Zuhause. Es handelt sich um Chios – fünftgrößte griechische Insel – (die Top 4 in korrekter Reihenfolge sollte einem regelmäßigen Leser dieser Wissenssammlung mühelos von den Lippen perlen) eigentlich bekannt für Mastix (dazu später mehr) und Sgraffiti – doch das erste, was mir ins Auge fiel waren folgende in Stein gemeißelte Schriftzüge:
Etwas verschämt am Rande des Hauptplatzes von Chios findet sich dieser verstörende Gedenkstein
Natürlich ließ mich ein derartiger Schandklotz nicht kalt und ich begann zu recherchieren. Tatsächlich fand sich im Netz dann auch eine ausführliche Beschreibung der Umstände, die zu diesem Gedenkstein geführt hatten und ich betrachtete die andere seit der Medaille. Auf jener wurde ein Widerstandskämpfer namens Jason Kalombokas geehrt, welcher hier am 7. September 1944 von den deutschen Besatzern erschossen wurde. Drei Tage bevor der letzte deutsche Wehrmachtssoldat die Insel endgültig verließ. Somit kann man also zerknirscht konstatieren, dass es sich bei dieser widerlichen Inschrift „nur“ um eine erheblich fragwürdige und schlampig ausgeführte Form des upcycling handelt. Widmen wir uns besser den „Tränen von Chios“, Mastix – das emblematische Produkt der Insel.
Der Begriff Mastix sagte mir irgendwas. Intuitiv verband ich ihn mit etwas Klebrigen oder auch etwas Alkoholischem. Genauere Aussagen rückte mein gepflegtes Halbwissen leider nicht heraus. Als wir nun auf der Fähre nach Chios saßen und ich mich über unsere nächste Trauminsel informierte, erfuhr ich, dass meine Wissensbausteine eine gewisse Grundlage besaßen, doch wie so oft nur ein Bruchstück des Ganzen darstellten. Das Wort kommt vom lateinischen mastichum, mastiche, dieses wiederum vom altgriechischen μαστίχη mastíchē „Mastix“ (wohlriechendes Harz vom Mastixbaum, das zum Kauen benutzt wurde). Es geht um das Harz der Mastixsträucher oder kleinen -bäume. Es entsteht durch Eintrocknen und Aushärten des Harzbalsams, der aus den Sträuchern oder Bäumen austritt. Mastix ist in Griechenland bekannt als „Tränen von Chios“. Dabei ist das Wort „Mastix“ ist in vielen Sprachen auch ein Synonym für Gummi geworden. Meine aus der Recherche erwachsende Vermutung, dass ebendieses Harz auch dem Retsina beigemischt würde, bestätigte sich aber leider nicht.
Dennoch scheinen die Fähigkeiten des Mastixstrauchs (Pistacia lentiscus), auch Wilde Pistazie) schier unermesslich zu sein. Erneut also mal wieder eine dieser pflanzlichen Daseinsformen, die einen auf Alleskönner machen.
Hier eine „kurze“ Liste der möglichen Verwendungen des aus dem Mastixbaum gewonnenen Mastixs:
- für Lebensmittel (Kaugummi, Backwaren, Limonade, Süßigkeiten wie z. B. Lokum, Dondurma)
- in Spirituosen (Rakı, Masticha) und Likören.
- in der arabischen und türkischen Küche als Gewürz, etwa als Kaffeezusatz
- als Naturkosmetik (Antiaging-Effekte, beruhigt und reinigt die Haut) und Körperpflegemittel (Zahnpasta, Gesichtscreme, Duschgels, Seifen etc.) Wird in der Liste der Inhaltsstoffe als PISTACIA LENTISCUS GUM (INCI) aufgeführt.
- als Klebstoff für Maskenbildner (künstliche Bärte, Warzen etc.)
- als Schlussfirnis bei Gemälden
- in der Temperamalerei als Emulsionsbestandteil
- als Bestandteil des Geigenlackes (Geigenbau)
- als Klebstoff für Glas, Porzellan oder Pietra dura
- als säurefestes Medium bei der Radierung
- als Räucherwerk, welches leicht nach Pistazien duftet
- im Mittelalter neben Kreide als Modellier- und Füllmasse bei Wappenfiguren auf Schilden.
Wenn man nach geraumer Zeit in Griechenland so langsam kümmerliche Fortschritte mit der Sprache verzeichnen kann, dann stutzt man zunächst bei der Ankündigung eines offiziellen, gesetzlichen Feiertags namens Επέτειος του «ΟΧΙ» (Jahrestag des ‚Nein‘). Ich habe ja nun schon die unterschiedlichsten und aberwitzigsten Anlässe für Feiertage mitgenommen, aber dass man das Wörtchen „Nein“ abfeierte, ja, dass es sogar einen Jahrestag haben sollte, das überraschte mich dann doch ein wenig. Doch der Hintergrund ist natürlich etwas gehaltvoller als meine bescheuerte Annahme, dass hier dem Ursprung aller Negativierung gehuldigt würde. Selbstverständlich war es eine Nummer kleiner und etwas anlassbezogener. Hintergrund ist die Ablehnung des von Benito Mussolini am 28. Oktober 1940 an Griechenland gestellten Ultimatums vor dem Beginn des Griechisch-Italienischen Krieges.
Kommen wir nun zur Türkei und notieren nur nebenher, dass wir quasi zwischen den Feiertagen die Länder wechselten. Huldigen die einem dem historischen Moment ihres standhaften „Neins“, feiern die anderen anderthalb Tage später die Ausrufung ihrer Republik. Anderthalb Tage? Genau, denn dieser Feiertag beginnt exakt um 1 Uhr nachmittags am 28. Oktober und dauert damit genau 35 Stunden. Am 29. Oktober 1923 erklärte ein gewisser Mustafa Kemal Pascha, späterhin als Atatürk bekannt, dass die Türkei von nun an eine Republik sei. Als wir an diesem Tag durch Kuşadası, ein mit allen touristischen Wässerchen gewaschenes Örtchen an der Ägäisküste schlenderten, wanderten wir durch ein rot-weißes Fahnenmeer – ein flatternden Ozean des Personenkults.
Atatürk-Quartett (1) Wette mit mir selbst – das komplette Set (8×4) steht innerhalb von 2 Wochen. #projektradria2
— Sasza (@muenzenberg.bsky.social) 31. Oktober 2024 um 15:44
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Die Feierlichkeiten um den Republikgeburtstag, dessen hundertjähriges Jubiläum wir nur knapp verpassten, wirkten äußerlich wie eine ausschließliche Beweihräucherung des Staatsgründers. Diesem ist in der Tat auch etwas außergewöhnliches gelungen – ein laizistischer, islamischer Staat – nach unseren Erfahrungen mit der übergriffigen und manipulierenden Praxis in zwei anderen islamischen Staaten wie Tunesien und Marokko konnten wir die Erfolge in der Türkei (bei allen Problemen und Schwierigkeiten) nun deutlich mehr schätzen. Wer war nun dieser Mann, der einen überall in der Türkei streng über die Schulter zu lugen scheint? (Obgleich die Frequenz an Atatürk-Schreinen in Kurdistan verräterisch abnahm.) Diese herausragende, gottgleiche Gestalt verfügte ursprünglich weder über einen Nachnamen noch ein Geburtsdatum. In Thessaloniki, welches 1881, im Jahr seiner Geburt, noch zum Reich der Sultane von Istanbul gehörte, wurden die Geburten neuer Untertanen nämlich nicht amtlich registriert. Bestenfalls notierten sich die Eltern die Geburt von Kindern in das Koranexemplar der Familie. Und so wissen wir bis heute nicht das Sternzeichen des kleinen Mustafas. Familiennamen waren ebenso nicht in Gebrauch. Den Familiennamen Atatürk („Vater der Türken“) legte sich Mustafa Kemal erst Jahrzehnte danach zu und sorgte per Gesetz dafür, dass dieser Nachname ganz allein für ihn reserviert blieb. Im übrigen: Erst 1934 wurde es zur allgemeinen Vorschrift in der modernen Türkei, einen Nachnamen zu tragen – eine der vielen umwälzenden europäischen Neuerungen für die der „Vater aller Türken“ zuständig zeichnete. Doch Atatürk hatte noch einiges mehr im Köcher, aber dazu später mehr (-> Sonnensprachtheorie).
Auf den Denizli-Kräher stieß ich erstmals, wer hätte es gedacht, in Denizli. Wir verbrachten in der Stadt, welche das natürliche Ende des Mäandertals darstellt, einige Tage und daher forschte ich nach möglichen Attraktionen, die hier im Angebot wären. Außer dem nahen, weltbekannten Pamukkale und dem antiken Laodikeia am Lykos, ploppte sehr schnell das landesweite Wahrzeichen der millionenstarken Provinzhauptstadt auf: Der Denizli-Kräher! Diese Haushuhnrasse, bzw. natürlich sein männlicher Vertreter, welcher im übrigen zu den Langkrähern gerechnet wird, ist aus dem überzeugenden Grund berühmt, dass er dazu in der Lage ist, einen Krähruf von 25 Sekunden, in Extremfällen sogar über 30 Sekunden zu erzeugen. Im Vergleich zu anderen Langkrähern ist der Ruf außerdem noch beeindruckend laut. Nun muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich in meinem Leben schon so einigen Hähnen gelauscht habe, doch im ersten Augenblick konnte ich die Information anfangs nicht recht einordnen: Sind 25 Sekunden jetzt sehr lang oder eher nicht? Offensichtlich ist es lang, sehr lang! Tatsächlich gibt es seit Jahrhunderten die beliebte Tradition des Wettkrähens bei dem der Denizli-Kräher auf solch gewichtige Kontrahenten wie den Bergischen Kräher oder das indonesische Lachhuhn (ja, es heißt so weil es mehr kichert als kräht) trifft.
Der Tigris gehört ganz ohne Zweifel in die Oberklasse der allseits bekannten Flüsse. Als unverzichtbarer Bestandteil des potamos in Mesopotamien sollte dieses Gewässer in den meisten Allgemeinwissen auftauchen. Als ich in Diyarbakır stand und ihn erstmals erblickte, sah ich nur ein recht unscheinbares Flüsslein, welches durch die üppigen Hevsel-Gärten gluckerte. Kurzentschlossen schob ich den Gedanken beiseite, was das größenwahnsinnige und bösartige Südostanatolien-Projekt aus ihm und seinem Bruder, dem Euphrat gemacht hatte, dachte vielmehr über eine Information nach, die ich kurz zuvor erfahren hatte: Und zwar, dass der Tigris eine der vier Ströme sei, die aus dem Garten Eden herausgeflossen sein sollen. Der zweite Fluss war klar, das musste natürlich besagter Bruderfluss sein, doch wer waren die anderen beiden?
Natürlich gibt es in der Bibel einen Teil der „Paradiesgeographie“ (Gen 2,10−14) genannt wird und genau hier taucht auch der Tigris unter dem Decknamen Hiddekel als Drittplatzierter auf. Neben dem Euphrat, der hier Perat heißt. Folgen noch zwei Flüsse namens Ghion und Pischon. Was wie ein osteuropäisches Zeichentrickpärchen klingt, ist in Wirklichkeit ein entzückendes Beispiel für das verworrene Orientierungsvermögen des meist verbreiteten Buchs der Welt (2,5 Milliarden Exemplare seit 1815). Denn man weiß es schlicht und einfach nicht. Gewagte Theorien vermuten, dass der Ghion der Nil sein könnte und es sich beim Pischon um den Ganges handeln könne. Aber das ist alles sehr wacklig, nicht nur aufgrund der daraus resultierenden, eher schwierigen Lokalisierung des Paradieses. Es gibt noch reichlich weitere absurde Spekulationen über die beiden Paradiesflüsse auf die wir uns hier nicht weiter einlassen müssen. Die Hälfte der Schatzkarte ist ja schließlich erhalten, irgendwo in der Nähe des Zweistromlands muss er dann wohl sein, der Garten Eden.
Einer meiner Hauptgründe für Reisen ist das unablässige Kennenlernen neuer, unbekannter Dinge: Es ist überraschend wie viele mir unbekannte Geschmäcker, Techniken, Wörter und Instrumente ich in unserer, immer stärker globalisierten und damit gleichförmig erscheinenden Welt entdecke. Dafür muss man sich nur langsam fortbewegen, genau hinschauen und sich natürlich dafür interessieren. Dass man auf Reisen jede Menge noch nie gehörter mythischer Figuren kennenlernt, mag dabei vielleicht am wenigsten überraschen. Dennoch bin ich stets angespitzt wenn ich hier etwas neues ausmache. So geschehen als ich mir nichts dir nichts über den Basar von Diyarbakır bummelte und auf einmal auf Tellern, Tüchern und anderen Utensilien ein sonderbares Mischwesen erblickte. Kurz darauf erfuhr ich um wen es sich handelte: Şahmaran – eine mythische Figur, welche im weitesten Sinne auf dem Gebiet des fruchtbaren Halbmonds tätig ist. Sie gilt als Göttin der Weisheit und Beschützerin von Geheimnissen. Der Name besteht aus den Bestandteilen des persischen šāh („König“) und mârân (ebenfalls persisch für „Schlangen“) und bedeutet somit König(in) der Schlangen. Dass sie was mit Schlangen zu tun hat, wäre tatsächlich auch meine erste Vermutung gewesen, da ihr Hinterteil schon sehr schlnagenförmig aussieht. Wir wissen nicht viel über die an sich sympathisch wirkende Chimäre, der einzige Wissenssteinbruch ist eine Geschichte von einem gewissen Cemşid – ein bestens angerührter Cocktail aus den genretypischen Zutaten wie Freundschaft, Magie, Verrat und Widersprüchlichkeit. Alleinstellungsmerkmal der Fabel: Der Moment als der Sultan anordnet, dass das ganze Land zu baden hat.
Kommen wir nun zu meinem persönlichen Liebling der diesmaligen Wissensdusche – die Sonnensprachtheorie. Wie überraschend viele verrückte Theorien entstammt sie ursprünglich einem serbischen Hirn. Hermann Feodor Kvergić (1895 – 1948 oder 1949), seines Zeichens Orientalist und Linguist kam Mitte der 1930er zu einer bahnbrechenden Erkenntnis: Türkisch ist „die Mutter aller Sprachen“, alle Sprachen der Welt gingen auf das „Prototürkische“ des „Urmenschen“ zurück. Entscheidendes Argument, welches diese erstaunliche Theorie stützte, war das Erstaunen des frühzeitlichen Menschen über die Sonne. Diese habe zu bestimmten Urlauten geführt, welche Kvergić im Türkischen zu erkennen glaubte. So weit, so absurd könnte man meinen und als weitere „Theorie“ auf die Quatschablage legen bzw. den Esoterikern als einzige, aber unter Verschluss gehaltene Wahrheit präsentieren. Wenn ja, wenn sie nicht genau zum rechten Augenblick die Aufmerksamkeit eines ambitionierten Identitätsarchitekten erregt hätte. Der „Vater aller Türken“ steckte nämlich genau in dieser Zeit in einem gewaltigen Schlamassel. Nach allen gewonnenen Schlachten auf dem Feld, im Parlament und in Moscheen hatte er sich zum Abschluss seines relaunchs der türkischen Nation an der Sprache versucht und war gehörig ins Schleudern geraten. In der von Atatürk Anfang der 30er initiierten extremen Phase der türkischen Sprachreformen hatte man versucht die türkische Sprache mit einem kompromisslosen Sprachpurismus herauszuschälen. Dies stellte sich nicht nur deshalb als ein Ding der Unmöglichkeit dar, weil das Türkische in diesem vorderasiatischen Schmelztiegel der Kulturen jahrhundertelang eine fruchtbare Beziehung mit dem Arabischen und Persischen geführt hatte, die allgemein als Osmanisch bekannt war. Zusätzlich war der türkische Bestandteil dieser Mischsprache nicht viel mehr als eine Bauernsprache, welche wiederum mit etlichen Gräzismen und Armenismen, bzw. Anglizismen oder Gallizismen (ja, das heißt tatsächlich so!) versetzt war. Der Versuch, eine reine türkische Sprache zu erschaffen, führte dementsprechend zu jeder Menge Konfusion. Daher passte die Sonnensprachtheorie perfekt, um ohne das Gesicht zu verlieren, diesem Dilemma zu entkommen. Denn fortan mussten arabische, persische oder sonstige untürkische Wörter nicht länger durch echte (künstlsich erschaffene) türkische Wörter ersetzt werden, da der neuen Theorie nach, die schnell zur Staatsdoktrin aufstieg, die Wurzel dieser Sprachen ja ohnehin Türkisch war. Was für ein boss move! Der Vater aller Türken ging eine feste Beziehung mit der Mutter aller Sprachen ein und heraus kam etwas ganz Besonderes an dem man sich noch heute erfreuen kann.